Israels Siedlungspolitik als Herausforderung für Kirchen, Theologie und Politik

An ein Thema, das für die Beteiligten so essentiell und emotional so hoch aufgeladen und unter den Beobachtern so umstritten ist wie das unsere, empfiehlt es sich, mit besonderer Achtsamkeit heranzugehen. Kennen Sie die Geschichte von Sokrates und den drei Sieben?
Ich habe mir vorgenommen, meine Überlegungen zur Siedlungspolitik Israels durch die drei sokratischen Siebe zu geben, und orientiere mein Referat daher an den drei folgenden Fragen:
1. Ist unsere Beschäftigung mit Israel und Palästina nötig?
2. Was ist wahr an den Darstellungen der Situation in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten?
3. Was ist gut und hilfreich, um die Manchen aussichtslos erscheinende Lage in der Region so in Bewegung zu bringen, dass eine für die Beteiligten konstruktive Entwicklung möglich wird?

Sie werden verstehen, dass ich in der gegebenen Zeit die äußerst vielschichtigen Zusammenhänge nur sehr abgekürzt darstellen kann. Ich hoffe allerdings, zwar pauschalisiert, doch im Wesentlichen zutreffend Ihnen die mir zentral erscheinenden Aspekte anschaulich machen zu können.

1.Ist unsere Beschäftigung mit Israel und Palästina nötig?
Unsere Beschäftigung mit dem Thema ist nötig, weil wir als Menschen mit christlichen Wurzeln und als Bürger Europas und Deutschlands schon lange tief in den gegenwärtigen Konflikt verwoben sind.

a.Christlicher’Antijudaismus’
Die zwei Jahrtausende alte christliche Überheblichkeit gegenüber den Angehörigen der jüdischen Mutterreligion mit ihrer bis in die jüngste Zeit festgehaltenen Überzeugung, dass die Christenheit anstelle der Judenheit als Volk Gottes auserwählt sei, hat auf höchst verhängnisvolle Weise den geschichtlich wirkungsvoll gewordenen Ausprägungen des Christentums einen Zug der Intoleranz verliehen. Soweit die Christenheit durch ihre
führenden Repräsentanten mit den jeweils herrschenden Mächten und Instanzen ein Bündnis einging, führte dies im Laufe der Jahrhunderte immer wieder dazu, dass die jüdische Minderheit Bedingungen unterworfen wurde, die zu Einschränkungen und Verzerrungen der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten führten. Allzu häufig
wurden Angehörige der jüdischen Minderheit im so genannten christlichen Abendland zu den Sündenböcken für unaufgelöste soziale Spannungen und innergesellschaftliche Machtkämpfe und somit zum Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung.
Auch wenn mit der Aufklärung und den Idealen der Französischen Revolution die traditionellen theologischen Vorbehalte gegenüber jüdischer Gleichberechtigung an Gewicht verloren, – sie blieben mächtig genug, um der neuzeitlichen Emanzipation und dem Veränderungselan und der Anpassungsbereitschaft jüdischer Menschen Grenzen zu setzen.
Diese Grenzen ein für alle Mal zu überwinden, wurde zum Ziel der neuzeitlichen jüdischen Nationalbewegung, herkömmlich Zionismus genannt.

  1. Europäischer Kolonialismus
    Die vor dem ersten Weltkrieg sich artikulierenden Vertreter einer eher intellektuell geprägten arabischen Nationalbewegung, die sich für arabische Unabhängigkeit auch in dem Südsyrien genannten Teil des Osmanischen Reiches einsetzten, fanden weltweit weniger Beachtung als die zionistischen Denker und Strategen. Die Entschlossenheit der führenden Kolonialmächte England und Frankreich, in der Region ihre weit ausgreifenden macht- und
    wirtschaftspolitischen Interessen durchzusetzen, führte dazu, dass es im Nahen Osten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht dazu kam, dass das vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson deklarierte Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Der Völkerbund übertrug vielmehr 1920 England das Mandat über Palästina, Frankreich das Mandat über Syrien und den Libanon. Die in einem Brief an
    Lord Rothschild 1917 gegebene Sympathieerklärung des britischen Außenministers Balfour zugunsten der Errichtung einer Jüdischen Heimstätte in Palästina wurde Teil des Vertragswerks. Die immanente Spannung zwischen der Befürwortung einer Jüdischen Heimstätte und der gleichzeitigen Festlegung, die Rechte der in Palästina bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften unbeeinträchtigt zu lassen, sollte Politik und Praxis in den
    kommenden Jahrzehnten unglücklich mitbestimmen.
    Mit der Verhinderung arabischer Unabhängigkeit in der Region bekam eine Option keine Chance auf historische Verwirklichung, die in Kontakten und Briefwechseln zwischen zionistischen Repräsentanten und arabischen Führern zumindest angesprochen und formuliert worden war, ein mehr oder weniger autonomes jüdisches Gemeinwesen in einem unabhängigen arabischen Staatsgebiet.
    Die Mandatsübernahme durch England machte für David Ben Gurion, der die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina auf Jahrzehnte entscheidend bestimmte, einen Seitenwechsel nötig. Ben Gurion hatte vor dem Ersten Weltkrieg sich auf eine Einflussnahme im Osmanischen Reich vorbereitet und 1912 an der Juristischen Fakultät von Konstantinopel
    das Studium der Rechtswissenschaften aufgenommen. Sein erstes Etappenziel war seinerzeit, Abgeordneter im türkischen Parlament zu werden. Die türkischen Autoritäten verwiesen Ben Gurion allerdings wegen seiner zionistischen Propaganda 1915 des Landes.
  2. Judenverfolgung und Vernichtung im nationalsozialistischen Deutschland
    Seit dem Entstehen des jüdischen Nationalismus war sein Ziel in Zion erst einmal eine Idee. Zur Verwirklichung dieser Idee brauchte es Menschen. Die Zahl der zu einer Einwanderung nach Palästina bereiten Juden hing weit entscheidender als alles Andere von zwei Faktoren ab, dem Ausmaß an gesellschaftlicher und persönlicher Bedrohung in den jeweiligen Heimatländern einerseits und dem Umfang der Auswanderungsmöglichkeiten in die so genannte freie Welt, in die Staaten Europas und der beiden Amerikas andererseits. Während zunächst wenige Tausende sich für den idealistisch oder sozialistisch motivierten Aufstieg nach Palästina entschlossen, denen in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts Zehntausende eher bürgerlich eingestellte polnische Juden folgten, suchten Millionen frustrierter und von Verfolgung bedrohter Juden Mittel- und Osteuropas ihre Hoffnung in der Auswanderung nach England und in die Vereinigten Staaten, soweit ihnen die
    Möglichkeit dazu geboten wurde. In Palästina übertraf im Jahre 1927 die Zahl jüdischer Auswanderer die der Neuankömmlinge.
    Erst mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten an die Macht und mit den schon im April 1933 beginnenden antijüdischen Aktionen und bereits 1935 detailliert kodifizierten Maßnahmen zur Entrechtung der jüdischen Staatsbürger schnellte die Zahl der nach Palästina Drängenden auf Zehntausende pro Jahr. Die Jüdische Einwanderung nach Palästina blieb bis
    zum Kriegsende in dieser Größenordnung, auch weil England bereits stärkere
    Einwanderungsbeschränkungen erlassen hatte und sich auf der eigens zu diesem Zweck einberufenen Konferenz von Evian im Jahr 1938 außer der Dominikanischen Republik kein Staat der westlich-christlichen Welt zu einer Anhebung seiner jüdischen Einwanderungsquote bereit fand. Angesichts der einhunderttausend Tausend den Lagern entkommenen jüdischen displaced persons und unter dem Eindruck der nun in das Bewusstsein der Öffentlichkeit tretenden Dimension der Katastrophe der Judenvernichtung wurde die Errichtung einer Heimstätte für Juden in Palästina für die westliche wie östliche Diplomatie zu einer historischen Notwendigkeit, die es unabhängig von dem sich zwischenzeitlich auch gewaltsam geübten Widerstand der arabischen Einwohnerschaft umzusetzen gelte. Wie in anderen Teilen der Welt wurde die Teilung des Landes, die im Peel-Plan von 1935 erstmals vorgeschlagen wurde, zur politischen Zauberformel. Auf der Grundlage des Teilungsplanes der Vereinten Nationen vom November 1947 proklamierte
    David Ben Gurion im Mai 1948 den Staat Israel, der sich im so genannten
    Unabhängigkeitskrieg militärisch zu behaupten und seine Grenzen an die bis 1967 geltenden Waffenstillstandslinien zu erweitern vermochte. In diesem Zusammenhang kam es zu Flucht und Vertreibung von mehr als 750.000 arabischen Einwohnern Palästinas und zur Zerstörung ihrer Dörfer, was von Palästinensern bis heute als Katastrophe, als Naqba , erinnert wird.
    (Anm.1)

Martin Buber, der bedeutende jüdische Religionsphilosoph und selbstkritische
Staatsbürger Israels hat die eben skizzierte Entwicklung in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1953 so gedeutet:
An die Stelle des langsamen, selektiven Nachströmens chaluzischer
Werkbegeisterung trat das Drängen der vor dem Verderben flüchtenden Massen, und die ungeheure Tatsache ihres Drängens erwirkte von der Welt die Ermöglichung des Judenstaats. … Anstatt eines organisch wachsenden, auf die Kooperation mit den Völkern Vorderasiens gegründeten Gemeinwesens erstand im erfolgreichen Kampf gegen alle Nachbarn ein Staat, der ihnen als Raubstaat gelten mag.
Um die entstandenen schweren Belastungen wissend hat Buber an seiner
Wertbestimmten Hoffnungsperspektive festgehalten und im Sommer 1958
geschrieben:
Wer dem Geist wahrhaft dienen will, muss all das einst Verfehlte wiedergutzumachen suchen; er muss daran arbeiten, die verschüttete Bahn für ein Einvernehmen mit dem arabischen Volke von neuem freizumachen. … Es kann heute keinen Frieden zwischen Juden und Arabern geben, der nur ein Aufhören des Krieges wäre; es kann nur noch einen Frieden der echten Zusammenarbeit geben. (Anm.2)

Solche Zusammenarbeit zu fördern würde der Verantwortung gerecht, die sich auch in meinem Verständnis aus der Katastrophe der Judenvernichtung für deutsche Bürger und deutsche Politik ergibt. Darüber hinaus darf die gebotene Förderung des Wohlergehens jüdischer Menschen keinesfalls auf die nach Israel Ausgewanderten und dort Geborenen sich beschränken oder beschränken lassen.

  1. Deutsche Politik seit dem Ende des 2. Weltkrieges
    Die reale Politik der deutschen Bundesregierungen hat von Anfang an die historische Verantwortlichkeit statt mit einer Friedenspolitischen Vision mit den gegebenen und neu gewählten wirtschafts- und außenpolitischen Interessen zu verknüpfen gesucht.
    Die zeitgeschichtliche Forschung ist sich darüber einig, dass die von Bundeskanzler Adenauer unterstützte Politik der Wiedergutmachung vor allem der Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft dienen sollte. Wie stark die restaurativen Tendenzen die bundesrepublikanische Innenpolitik bestimmten, lässt sich daran erkennen, dass für die Annahme des im September 1952 geschlossenen Luxemburger Abkommens im Deutschen Bundestag die Stimmen der sonst so wenig geachteten sozialdemokratischen Opposition notwendig waren. Die Ausfuhr deutscher Waren war der damaligen bundesdeutschen Politik ebenso willkommen wie die Abnahme israelischer Waffen. Ansonsten bestimmten die
    deutsch-arabischen Wirtschaftsbeziehungen und der in die Hallstein-Doktrin gefasste Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik die auf den Nahen Osten bezogene Politik.
    Aus heutiger Sicht ist es wohl kaum noch verständlich, dass die erst 1965 vollzogene und auch damals eigentlich ungeplante Aufnahme der diplomatischen Beziehungen einen Mann zum ersten deutschen Botschafter in Israel machte, der im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtsoffizier gewesen war. Dass Israel dieser Personalie überhaupt zustimmte, soll daran gelegen haben, dass Israel auf diese Weise einen seinerseits umstrittenen Experten für
    die militärische Zusammenarbeit beider Länder als ersten Botschafter nach Bonn entsenden konnte. (Anm.3)

Inzwischen, um die weiteren Abschnitte der deutsch-israelischen Geschichte zu überspringen, hat Bundeskanzlerin Merkel die Unterstützung Israels als Teil der deutschen Staatsräson erklärt. Die Lieferung deutscher U-Boote soll erklärtermaßen die atomare Abschreckungsfähigkeit Israels erhöhen. An politische Verpflichtungen zur Konfliktlösung oder zur Einhaltung der Menschenrechte in den besetzten Gebieten sind die deutschen Rüstungsexporte nach Israel ebenso wenig gebunden worden wie die großzügigen Entwicklungs- und Wirtschaftshilfen. Dass die gleichzeitige Lieferung von schweren Waffen und Kriegsschiffen nach Saudi-Arabien zu einem schweren Zielkonflikt führt, scheint in der politischen Diskussion keine besondere Rolle zu spielen. Hauptsache, die Arbeitsplätze auf norddeutschen Werften und an anderen Rüstungsproduktionsstandorten bleiben erhalten.

Wir sind also im Konflikt um Israel und Palästina längst mittendrin. Wie der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann während der bundesdeutschen Studentenrebellion einmal gesagt hat, weisen, wenn wir auf einen Anderen mit dem Finger zeigen, drei Finger auf uns selbst zurück.’
Deshalb ist es für uns notwendig, sich mit der Situation in den besetzten Gebieten und mit der gegenwärtigen Politik Israels und der Palästinenser und möglichen Alternativen zu beschäftigen. Wenn der Regierung Israels nahestehende Kreise in solcher Beschäftigung eine Einmischung in innere Angelegenheiten sehen, ist daran zu erinnern, dass Israel auf die finanzielle Unterstützung seines Landes durch deutsche und europäische Institutionen seit langem Wert legt und bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Politik zum Erhalt einer militärischen Vormachtstellung darauf auch angewiesen ist. Die Vergabe finanzieller Mittel und die auf zahlreichen gesellschaftlichen Feldern sich vollziehende deutsch-israelische Zusammenarbeit darf im Blick auf die Krisenregion Naher Osten allerdings kein Selbstzweck sein, sondern ist auf die zugrunde liegenden Werte und die davon ausgehenden Wirkungen
jeweils sorgsam zu prüfen.

  1. Was ist wahr?
    Ist denn wahr, was Du mir erzählen willst? , fragte Sokrates den Mitteilungsbedürftigen. Ich erinnere mich noch an eine spannende Philosophiestunde während meiner Schulzeit am Göttinger Max_Planck_Gymnasium, in der es um die Frage des Pilatus ging: Was ist
    Wahrheit? Aus Zeitgründen müssen wir hier auf philosophische Begriffsbestimmungen verzichten. Eher pragmatisch gewendet kann es allenfalls um die Verifizierbarkeit von Behauptungen gehen, um die Frage also, wieweit Darstellungen der Situation in den inzwischen seit bald 47 Jahren besetzten Gebieten auf die Lage vor Ort zutrifft und vor allem
    die Lage der Menschen vor Ort zureichend widergibt.
    Nach 50 Jahren neugierigen Umgangs mit den unterschiedlichsten Darstellungen neige ich zu der Behauptung, dass die meisten Beobachter das sehen, was sie gern sehen möchten. Auch die am Konfliktgeschehen Beteiligten nehmen, so scheint mir, vor allem das wahr, was ihren jeweiligen Bedürfnissen und Handlungsvorgaben entspricht. Manche sehen wie die Indianer bei der Ankunft der Schiffe des Kolumbus selbst das vor Augen Liegende nicht, das sie es sich nicht vorzustellen vermögen. Das führt dazu, dass wir vieles hören und lesen, das an sich möglicherweise durchaus wahr ist und doch das Ganze verfehlt. Überwiegend bestimmen Teil-Wahrheiten die Debatte. In Abwandlung eines Bonmots über theologische Diskussionen
    wage ich die These: Wie mit Versen der Bibel lässt sich mit Details der Geschichte des Nahostkonflikts wahrlich alles belegen, ohne deshalb schon wahr zu sein.
  2. Israelisches oder zionistisches Selbstverständnis?
    In meinem Verständnis stellt die Situation in den besetzten Gebieten eine tragische Fortsetzung des eingangs angesprochenen Konflikts zwischen zwei im selben geographischen Raum angesiedelten nationalen Bewegungen dar. Hermann Meier-Cronemeyer, der leidenschaftliche Erforscher der deutschen Jugendbewegung und gründliche Kenner der Geschichte des Zionismus, hat gegen Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben:
    Jedem Nationalismus wohnt, obwohl er gern den gleichen Wert der Völker
    proklamiert, … ein totalitäres Moment inne, sofern er das Selbstbestimmungsrecht der Menschen an das Selbstbestimmungsrecht des Volkes im Nationalstaat bindet, sich also nach innen gegen Minoritäten, welche die eigene Tradition nicht teilen, abschirmen muss, will er nicht die Prinzipien leugnen, nach denen er angetreten ist.
    Nach außen, ließe sich hinzufügen, ist jede nationalistische Politik auf mehr oder weniger verlässliche Bündnisse mit Mächten angewiesen, deren äußere Interessen sich mit den eigenen zu decken scheinen, in der Regel nur für eine gewisse Zeit.
    (Anm.4)

Ich selbst hatte als Student an der Hebräischen Universität von Jerusalem und als erster deutscher Studentenvertreter bei der dortigen Studentenvertretung bis zum Juni-Krieg von 1967 die Möglichkeit, die damalige Situation in Israel eingehender kennenzulernen. Damals war die Redewendung: Predige mir keinen Zionismus gleichbedeutend mit Erzähl mir keinen Unsinn. Die mehr oder weniger weitreichenden Debatten nicht nur akademischer Kreise drehten sich um die Fragen, was israelisches Nationalbewusstsein im Unterschied zum
jüdisch-zionistischen Selbstverständnis vor der Staatsgründung ausmache, und wie die unaufhebbare Spannung zwischen einem neuen und eigenständigen israelischen Selbstverständnis zu unterschiedlichen Varianten eines nicht-nationalen jüdischen Selbst-Verständnisses in der zahlenmäßig gewichtigeren jüdischen Diaspora anzunehmen und konstruktiv zu gestalten sei.

  1. Zwischen Demokratie und nationalistischer Ideologie
    Nach der im Zuge des so genannten 6_Tage_Krieges militärisch keineswegs notwendigen Eroberung des bis dahin von Jordanien annektierten palästinensischen Westjordanlandes entwickelte sich unter Aufnahme früherer Elemente eine Re-Judaisierung der israelischen Politik, die in einem teils religiös-fundamentalistisch geprägten, teils zelotisch-militant
    bestimmten Neo-Zionismus ihren ideologischen Ausdruck fand. Zunächst wild und auch nach israelischem Recht illegal geschaffene jüdische Siedlungen an geschichtsträchtigen Orten des besetzen Landes wurden zuerst zum Stimulans, später zum politischen Ziel einer breiter werdenden Bewegung, die behauptete, die neuen Siedlungen stellten die legitime Fortsetzung der vor 1948 notwendig gewesenen Einwanderung und den Gipfelpunkt der Rückkehr ins Land der Väter dar. Die religiösen Anhänger eines Groß-Israel verstanden
    dieses im Sinne von Meier-Cronemeyer totalitäre Konzept als Gebot Gottes, der ihnen den Sieg im Krieg von 1967 gegeben habe. Im Rückgriff auf biblische Erzählungen, die in der von der Aufklärung unberührten jüdischen Tradition ebenso wie in der vorstaatlichen zionistischen und israelischen Schulerziehung als geschichtliche Berichte vermittelt wurden, konnten Bewohnerinnen und Bewohner von Siedlungen im besetzten Westjordanland ihren Besuchern erklären: Dieses Land hat uns Gott gegeben. Die Araber haben anderswo genug Platz, sich niederzulassen.
    Die Etappen der neuen Landnahme von der Umwandlung der Militärverwaltung in eine israelische Zivilverwaltung über die Ausweitung der Siedlungspolitik auch unter von der Arbeiterpartei geführten Regierungen hin zu den unterschiedlichen Varianten der Pläne für jüdische Siedlungen und arabisch_palästinensische Autonomiegebiete können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Im Ergebnis ist es dazu gekommen, dass Israel 1967 das frühere Ostjerusalem verwaltungsmäßig integrierte, das untrennbare Jerusalem 1980 zur Hauptstadt Israels erklärte und die Stadtfläche 1991 noch einmal ausgeweitet hat. Seit diesem Zeitpunkt benötigen palästinensische Einwohner der Westbank eine eigene Genehmigung, wenn sie das Stadtgebiet Jerusalem aufsuchen möchten. Die Zahl der jüdisch-israelischen Bewohner im früher arabischen Jerusalem übersteigt inzwischen leicht die Zahl der arabischen Bewohner. In den mehr als 145 offiziellen Siedlungen und etwa 100 weiteren outposts genannten inoffiziellen Siedlungen haben sich bald 400.00 jüdische Israeli angesiedelt. Ein Drittel der Siedler hat nach Meinungsumfragen erklärt, sie seien bei finanziellem Ausgleich bereit, ins Kernland Israel zurückzukehren. Am schwersten wiegt wohl die Zahl der in Administrativhaft genommenen oder zu kürzeren oder längeren Haftstrafen
    verurteilten Palästinenser, unter ihnen zahlreiche junge Menschen. Schätzungen gehen davon aus, dass bei fast der Hälfte aller Familien mindestens ein Mitglied quälende Erfahrungen in israelischer Haft erlebte. Die Zahl der von Israel Festgenommenen oder Verurteilten geht in die Hunderttausende. Im Jahr 2012 hat die UNESCO die nächtliche Festnahme von Kindern und Jugendlichen beklagt, die ohne Begleitung Verhören ausgesetzt werden und zur Unterschrift unter hebräische Geständnisse gedrängt werden. (Anm.5)
  2. Fundamentalismus und Gewalt – und Alternativen
    Diese für die Menschen im besetzten Westjordanland verheerende Entwicklung hat auf arabisch-palästinensischer Seite die Ausbildung einer ihrerseits religiös-fundamentalistischen Strömung begünstigt. Deren terroristische Aktionen, insbesondere die jeden israelischen Staatsbürger bedrohenden Selbstmordanschläge in den 90er Jahren und in der ersten Hälfte
    des neuen Jahrtausend haben ihrerseits zur Rechtfertigung einer ausgeweiteten Siedlungspolitik beigetragen und eine immer rücksichtloser werdende Unterdrückungspolitik der palästinensischen Zivil-Gesellschaft und insbesondere ihrer verständigungsbereiten Vertreter begünstigt.

Die früher engagiert aufgetretenen Kräfte der israelischen Friedensbewegung zogen sich angesichts der Eskalation der Gewalt zurück, verstummten oder wechselten das politische Lager. Eine entschlossene Minderheit blieb der Radikalisierung beider Seiten zum Trotz ihrem Anliegen eines demokratischen Nationalismus und einer Verständigung zwischen den Konfliktparteien treu und suchte unter schwierigen Bedingungen die Brücke der Zusammenarbeit mit palästinensischen Partnern aufrechtzuerhalten. Die Vielzahl der Gruppen und Initiativen kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Die Namen der bekanntesten werden Sie möglicherweise schon gehört haben. Betzelem , so wie die hebräische Bibel den Menschen beschreibt, geschaffen nach dem Bilde Gottes, ist die älteste israelische Menschenrechtsorganisation. In der Initiative Breaking the Silence haben sich aktive und Reservesoldaten zusammengefunden, um öffentlich und in Publikationen Zeugnis zu geben von den schweren Menschenrechtsverletzungen, zu denen sie im Dienst gezwungen wurden oder die sie zu verweigern suchten. Die Frauen in
Schwarz treffen sich jede Woche in Jerusalem zur Mahnwache gegen die Besatzung und bemühen sich wie die Mitglieder von Machsom watch um Intervention und Hilfestellung an den Grenzlinien zwischen israelischem und palästinensischem Gebiet. Zokhrot hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Ereignisse der Naqba , der palästinensischen Katastrophe festzuhalten und hat zeitgeschichtliche Zeugnisse gesammelt, zu denen auch die von damaligen an Vertreibungsaktionen beteiligten jüdisch-israelischen Soldaten gehören.

Im Zuge der immer ausgreifender werdenden jüdischen Besiedlung des Westjordanlandes meinten auf jüdisch-israelischer wie auf arabisch-palästinensischer Seite Manche, die einzige Alternative zu der immer aussichtsloser erscheinenden Zwei-Staaten-Lösung biete das Zusammenleben in einem bi-nationalen Staat, das für einzelne Persönlichkeiten und Gruppen bereits auf der Tagesordnung der Geschichte stand.
In der Mitte der jüdisch-israelischen Gesellschaft verstärkten sich demgegenüber in den letzten Jahren die Stimmen derer, die teils um der demokratischen Verfasstheit des Staates willen, teil zur Wahrung seines jüdischen Charakters Alternativen zum immer bleierner werdenden Status Quo erwogen und zur Diskussion stellten.
Ein gewichtiger Anteil an der öffentlichen Diskussion wie am praktischen Vollzug, besser der Verhinderung bestimmter Maßnahmen israelischer Militär-Politik kommt bemerkenswerter Weise einem langfristig denkenden Flügel des israelischen Sicherheits-Apparats zu. Durch den Film The Gatekeepers sind prominente Vertreter dieser Gruppe einer breiteren
Öffentlichkeit bekannt geworden.
Der humanistisch gesonnene palästinensischen Philosophie-Professor und Fatah-Vertreter Sarih Nusseibeh wurde zum Initiator zunächst aussichtsreich erscheinender palästinensisch-israelischer Friedensinitiativen, 2001 zusammen mit der israelischen Bewegung Peace Now , danach gemeinsam mit dem vormaligen Chef des Inland-Geheimdienstes Ami Yaalon. Die von ihnen ins Leben gerufenen Gruppen Stimme des Volkes und Volkskampagne für
Frieden und Demokratie sammelten in den Jahren 2002 bis 2004 in Israel wie im besetzten Westjordanland zusammen 400.000 Unterschriften zugunsten einer baldigen Friedensregelung, die dem zu errichtenden palästinensischen Staat einen Anteil an Jerusalem und dem Staat Israel Sicherheit geben sollte.
Inzwischen stehen die Folgen einer Jihadisierung des zunächst zivilen Protests gegen die syrische Führung, wie sie sich im blutigen und das Wohl und die Rechte der Bevölkerung immer mehr außer Acht lassenden Bürgerkrieg in Syrien zeigen, als warnendes Menetekel an der nahöstlichen Wand. Womöglich gibt diese bedrohliche Aussicht nunmehr der Vernunft
eine letzte Chance. Denn das Gute, nach dem zuletzt zu fragen ist, steht schon länger im Raum.

  1. Was ist hilfreich und gut?
    Damit sind wir beim dritten Sieb des Sokrates.
  2. Entwicklungen in der Region
    Unter dem Eindruck der verheerenden Selbstmordanschläge durch palästinensische Gruppen und in Atem gehalten durch den sich mehrfach wiederholenden Teufelskreis von gezielten israelischen Tötungen, Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen und zerstörerischen Militärschlägen, die nicht nur die dortigen Stellungen, sondern auch die Zivilbevölkerung und
    wesentliche Elemente der Infrastruktur trafen, ist in der israelischen wie internationalen Öffentlichkeit weithin übersehen worden, dass es auf der palästinensischen und arabischen Seite seit dem Beginn des neuen Jahrtausend eine breite Bereitschaft zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts gibt.
    Im Jahre 2002 verabschiedete die Arabische Liga einen Friedensplan, der im Juni desselben Jahres von allen 57 Mitgliedern der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, einschließlich des Iran, unterstützt wurde. Im März 2007 wurde diese Erklärung auf der Gipfelkonferenz der Arabischen Liga in Riad noch einmal bestätigt. Im Jahre 2005 erklärte die Palästinensische Autorität ihre Entschlossenheit zum gewaltfreien Widerstand gegen die israelische Besatzung. Trotz der Machtkämpfe, die der für die Hamas erfolgreiche Ausgang der Wahlen zum Palästinensischen Nationalkongress im Jahr 2006
    auslöste, der zur einseitigen Übernahme der Macht im Gazastreifen durch die Hamas und deren vollständige Isolierung führte, ist die Autorisierung des Palästinensischen Präsidenten zu Verhandlungen mit Israel in Kraft geblieben. Beobachter gehen davon aus, dass auch in der Hamas ein Umdenkprozess vonstattengeht, wie er sich innerhalb von Fatah und PLO
    vollzog, bevor sich die palästinensische Führung 1988 zur Anerkennung Israels bereit erklärte.

In den von der amerikanischen Administration geplanten weiteren Verhandlungen zur Ausfüllung des für Ende April angekündigten Rahmenabkommens könnten die Konfliktparteien auf dem vielfach Erreichten der seit 1992 geführten und jeweils nicht zum Abschluss gekommenen Verhandlungsrunden aufbauen. Wer sich die Texte genauer anschaut, die in den offiziellen Gesprächen in Taba oder in den inoffiziellen Gesprächen zur
Vorbereitung der Genfer Initiative beidseitige Zustimmung fanden, kann zu dem Schluss kommen, dass eine abschließende Verständigung angesichts der Friktionen in beiden Gesellschaften zwar äußerst schwierig, doch nicht völlig aussichtslos ist.

Womöglich erleichtert die Ahnung, dass es sonst nur noch schlimmer werden kann, es den Beteiligten, die Chance zu einem historischen Kompromiss zu ergreifen. Dazu könnte beitragen, dass beide Seiten über die eigenen Vorteile und Befürchtungen hinaus auf die hinter der jeweils anderen Seite liegende Geschichte schauen und sich entschließen, deren zentrale Anliegen grundsätzlich zu würdigen.

Im Blick auf das Flüchtlingsproblem hat Sari Nusseibeh in seinem Rückblick auf sein politisches Engagement berichtet, dass er im Gespräch mit jüdischen Israeli immer wieder erklärte:
Es spielt keine Rolle, ob Sie vorsätzlich die palästinensische Flüchtlingstragödie verursacht haben. Die Tragödie ist da, auch wenn sie nur indirekt eine Folge ihres Vorgehens ist. Unserem traditionellen Verständnis nach müssen Sie dazu stehen. Sie müssen kommen und sich entschuldigen. Nur auf diese Weise werden die Palästinenser spüren, dass ihre Würde anerkannt wird und in der Lage sein zu vergeben. (Anm.6)

Demgegenüber fällt es der palästinensischen Seite offenbar immer noch schwer, die aus der Erfahrung der Katastrophe der Judenvernichtung herrührende Sorge weiter Kreise der jüdischen Bevölkerung um ihre existentielle Sicherheit wirklich ernst zu nehmen, die sich nicht nur als Ergebnis ideologischer Instrumentalisierung an die Seite stellen lässt. Avraham Burg, der Sohn des vormaligen Innenministers und Repräsentanten einer liberal-demokratischen National-Religiösen Partei Josef Burg, hat vor diesem Hintergrund als einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu einer zukünftigen Verständigung die Entwicklung benannt: From Trauma to Trust , auf Deutsch: vom Trauma zu Vertrauen! (Anm.7)

Im besten Fall könnte es zu einer Vereinbarung kommen, die beiden Seiten Gewinn bringt, den Israelis den Gewinn von Sicherheit, den Palästinensern den Gewinn von Freiheit. So oder so bleibt die Verständigung zwischen jüdischen und palästinensischen Staatsbürgern Israels und die Verständigung zwischen den Bewohnern von Israel und Palästina eine diplomatische Lösungen gewiss erleichternde und zugleich eine weit darüber hinaus
reichende Aufgabe.

  1. Was können Kirchenmitglieder und Bürger, Theologen und Politikwissenschaftler beitragen?
    Beginnen wir mit den Kirchen und der Theologie. Seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist es zunächst in der evangelischen, dann auch in der katholischen Theologie zu einer bahnbrechenden Wende im Gegenüber zum Judentum gekommen. In Reflektion der Unermesslichkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und ihrer auch christlichen
    Vorgeschichte wurde die Vorstellung einer Ablösung des Judentums durch das Christentum aufgegeben und demgegenüber die Bedeutung des Judentums als Wurzelgrund des Christentums betont.
    Die für das interreligiöse Gespräch überaus wichtige Einsicht in die zweifache, mit der Ausbildung des Islam dreifache Wirkungsgeschichte der hebräischen Bibel wurde von den für den Rheinischen Synodalbeschluss verantwortlichen Theologen allerdings in theologische Lehrformeln gekleidet, die in mehrfacher Hinsicht hinter dem Gebotenen zurückblieben.

Zum einen blieben die in der alttestamentlichen Forschung der letzten 150 Jahre gewonnenen Einsichten in die Überlieferungs-Geschichte der hebräischen Bibel im Wesentlichen unbeachtet. Stattdessen wurde die moderne nationaljüdische Geschichtssicht adaptiert. (Anm.7)

Zum anderen hielten die christlichen Vertreter der Rückbesinnung auf das
Judentum an einem geschichtstheologischen Verständnis fest, das mit aufgeklärtem Denken schwer zu vereinbaren ist und Missdeutungen praktisch nicht zu vermeiden vermag. In der Folge blieb die eigenständige Reflektion von grundsätzlichen Kriterien zur Einschätzung der realen politischen Gegebenheiten in Israel und Nahost aus. Wirklich begründete Orientierung für das Überlegen und Handeln zeitgenössischer Christenmenschen im Gegenüber zu jüdischen und muslimischen Mitbürgern wie zu den Konfliktparteien im Nahen Osten vermochten denn auch die Denkschriften der EKD zum christlich_jüdischen Verhältnis ebenso wenig zu geben wie die 2012 von EKD, VELKD und EKU gemeinsame herausgegebene Orientierungshilfe Gelobtes Land? Land und Staat Israel in der Diskussion . Auch eine gründliche Auseinandersetzung mit dem von palästinensischen Theologen herausgegebenen befreiungstheologisch orientierten Kairos-Dokument vom
Dezember 2009 ist, soweit ich sehe, bisher ausgeblieben.
Die einzig deutliche Stellungnahme in den Erklärungen der EKD, die Ablehnung des christlichen Zionismus, scheint mir folgenlos geblieben zu sein. So läuft der Pilger-Tourismus nach Israel ganz überwiegend in den gewohnten Bahnen weiter. Für fundamentalistisch Geneigte sind Besuche etwa in der Mutter der Siedlungen, in Ofra, hinzugekommen mit Vorträgen aus berufenem Munde zum aktuellen, von wissenschaftlicher Bibelkritik
unangefochtenen Thora-Judentum.

Kritischere Zeitgenossen und Kirchenmitglieder suchen vergeblich nach einem klaren Wort deutscher Kirchenleitungen zu Gewaltverherrlichung auf palästinensischer und zu Menschenrechtsverletzungen auf israelischer Seite. In den Vereinigten Staaten von Amerika demgegenüber fanden sich 2012 fünfzehn prominente Vertreter der großen Kirchen bereit zu  einem gemeinsamen  Brief  an den amerikanischen Kongress, in dem sie forderten, die finanzielle und militärische Unterstützung Israels ausdrücklich an die Einhaltung der Menschenrechte zu binden.

Auch in den politischen Wissenschaften unseres Landes hat es seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Entwicklungen gegeben, die eine von kulturellen Vorurteilen und machtpolitischen Erwägungen freiere Beschäftigung mit den Menschen und Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens möglich machten. Insbesondere die Arbeit der Friedensforschungsinstitute hat Eingang in die politische Diskussion gefunden und sich auf die Gestaltung von Projekten der deutschen politischen Stiftungen und der Goethe-Institute in der Region ausgewirkt. In der Breite steht die Umsetzung der gewonnenen Einsichten in der politischen Jugendbildung und im breiten Feld des Jugendaustausches eher noch aus. Da
sind an vielen Orten, die sich in Partnerschaften mit israelischen Städten verbunden haben, noch wichtige Schritte zu tun. Vor allem gilt es, konsequent auf die Einbeziehung auch der arabisch-palästinensischen Staatsbürger Israels zu achten. (Anm.9)

Dass Wichtiges über die bisherigen Schritte hinaus noch zu beachten ist, gilt schließlich und nicht zuletzt auch für die so genannte Gedächtniskultur in unserem Land, ohne dass ich dies an dieser Stelle angemessen entfalten könnte. Ich kann hier nur die für mich entscheidende Perspektive nennen: Damit die Erinnerung der ermutigenden wie der bedrückenden Ereignisse der Vergangenheit einer besseren Zukunft den Weg zu bereiten vermag, gilt es
immer wieder neu, innezuhalten und den tieferen Ursachen von Missachtung und zerstörerischer Gewalt nachzugehen.(Anm.10)

Entsprechend bleibt es für uns alle eine andauernde Herausforderung, an der Überwindung der gesellschaftlichen Strukturen und der Auflösung der biographischen Hemmnisse zu arbeiten, die uns daran zu hindern vermögen, unser Mitgefühl frei und wirksam für alle strömen zu lassen.

Anmerkungen und Literatur

Den Text dieses am 5.März in Gimte bei Hann.Münden gehaltenen Vortrages widme ich Reiner Bernstein mit Dank für jahrelange Zusammenarbeit vielfache Ermutigung und zahllose Anregungen und Hinweise!

Anm.1 Die jüngste erschütternde Darstellung eines Abschnitts der Naqba, die Vertreibung der Bewohner von Lydda, gibt Arik Shavit in seinem zunächst in Englisch erschienen My Promised Land. Triumph and Tragedy of Israel, New York 2013. In seiner letztlich rechtfertigenden Tendenz ist sich Shavit mit dem späteren Benny Morris. Anders Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt 2007

Anm.2 Ernst Simon, Nationalismus, Zionismus und der jüdisch-arabische Konflikt in Martin Bubers Theorie und Wirksamkeit, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts Jg.9, Nr.33, 1966 S.21_85, hier S.81

Anm.3 Die Kontinuität im Denken des Diplomaten Pauls, der nach Tel Aviv auch erster deutscher Botschafter in Peking wurde und auch in Washington und Brüssel Dienst tat, zeigt seine Veröffentlichung: Rettet uns die Rüstungspolitik? Sicherheit am Ende eines unsicheren Jahrhunderts,
Zürich 1982

Anm.4 Hermann Meier-Cronemeyer, Zionismus. In: H. Meier-Cronemeyer/U. Kusche/R. Rendtorff, Israel, Hannover 1970. 2. Auflage als Israel in Nahost, Hannover 1973. 3. Auflage Hannover 1975, hier 3.Aufl. S.61

Anm.5 Erschütternde Einblicke in die Praxis israelischer Festnahmen und Verhöre palästinensischer Kinder und Jugendlicher im Westjordanland und in Jerusalem vermitteln die nachstehenden Videos:

http://www.abc.net.au/4corners/stories/2014/02/10/3939266.htm

Anm.6 Sari Nusseibeh, Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina, München 2008. Taschenbuch 2009,

Anm.7 Vgl. Auch Avraham Burg, Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt 2009

Anm.8 Vgl. dazu Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2008. Taschenbuchausgabe Berlin 2011 Ders., Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit, Berlin 2012

Anm.9 Das Braunschweiger Schulbuch-Institut hat die Arbeit unterstützt, die zu dem einzigartigen, wenig genutzten Geschichtsbuch geführt hat, in dem beide Narrative gegenübergestellt werden: Dan Baron/ Sami Adwan, Learning Each Other`s Historical Narrative: Israelis and Palestinians, Peace Research Institute in the Middle East, Beit Jallah 2003

Anm.10 Beachtenswert erscheint mir der Ansatz von Tzvetan Todorov, der in Sakralisierung wie Banalisierung vorangegangener Katastrophen ein Vermeiden der nötigen Erinnerungsarbeit sieht. Wider Banalisierung und Sakralisierung. Vom guten und schlechten Gebrauch der Geschichte, in:
Le Monde diplomatique, 12.4.2001

©Dr. Ulrich Kusche Göttingen März 2014