50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen

Erfahrungen, Entwicklungen, Aussichten

Humanistische Gesinnung
In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihrer Eltern und ihres Landes entstand mit Beginn der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts bei zahlreichen deutschen Jugendlichen der Wunsch, Israel kennenzulernen mit den dort lebenden Menschen und manchen auch für das eigene Land verheißungsvoll erscheinenden Projekten. Wie Inge Deutschkron berichtet hat, besuchten 1960 vierzig Gruppen junger Deutscher Israel, 1961 sechzig, 1963 bereits zweihundert. Zu diesen zweihundert gehörte auch die Abiturientengruppe der Göttinger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die mir im Frühjahr 1963 Gelegenheit gab, Israel aus deutsch-jüdisch-humanistischer Perspektive kennenzulernen. Nach dem Bekanntwerden der Mitarbeit deutscher Raketentechniker in der ägyptischen Rüstungsindustrie hatte statt der empört ablehnenden Kibbuzim ein Kinderheim im bei Haifa gelegenen Kiriat Bialik sich bereit erklärt, uns aufzunehmen. Der Ort war 1934 von deutschen Juden, zumeist aus akademischen Berufen gerissen, gegründet worden. Trotz der Katastrophe der Judenvernichtung, der sie selbst, aber keineswegs alle Angehörigen entkommen waren, hielten sie an ihrer Muttersprache und ihrer Wertschätzung deutscher Literatur, Kunst und Musik fest. Als junge Deutsche mit humanistischer Bildung und Interesse an Völkerverständigung wurden wir willkommen geheißen und in ihre Lebenswelt hineingenommen. Zu dieser gehörte auch das Kinderheim, in dem ebenfalls seit 1934 Jugendliche des Berliner Kinderheimes Ahawah Rettung gefunden hatten und in dem nach der Staatsgründung Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen betreut und gefördert wurden. Hanni Ullmann, die damalige Leiterin, stand in engem Kontakt mit Persönlichkeiten wie Ernst Simon, Martin Buber und Schalom Ben Chorin und setzte sich für eine möglichst kindgerechte Pädagogik ein und darüber hinaus für ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit den arabischen Mitbürgern. Den daran interessierten jungen Mädchen aus den arabischen Dörfern der Umgebung ermöglichte sie gegen offizielle Widerstände den Besuch der dem Kinderheim angeschlossenen Schule für Kinderpflegerinnen. Nach ihrem Ruhestand initiierte Hanni Ullmann den Aufbau des Kinderheimes Neve Hanna in Kiriat Gat. Es ist durch seine fortschrittliche pädagogische Konzeption ebenso bekannt geworden wie durch seine intensive Zusammenarbeit mit Pädagogen und Familien der nahe gelegenen beduinischen Stadt Rahat.
Israelis mit diesem deutsch-jüdischen Hintergrund sind die Ersten gewesen, die jene deutschen Besucher willkommen hießen, die als frühere Nazi-Gegner oder als Angehörige einer neuen Generation ins Land kamen. Sie haben die ersten Pfeiler errichtet für eine Brücke über den Abgrund der ungeheuerlichen Katastrophe, um in den deutsch-israelischen und den christlich-jüdischen Beziehungen ein neues Miteinander zu ermöglichen mit einem wachen Bewusstsein von Verantwortlichkeit für ein heilsames Verhältnis zwischen den Völkern. Die Arbeit von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (ASF) fand bei den sogenannten „Jeckes“ die ersten und treuesten Partner. Von ihnen hörten die interessierten Gruppen der frühen Begegnungsjahre über jüdische Geschichte und jüdisches Selbstverständnis. Durch ihre Mitwirkung haben sie einen christlich-jüdischen Dialog in der Bundesrepublik überhaupt erst ermöglicht und dazu beigetragen, dass deutsche Theologen ein
Umdenken begannen, das nach der Katastrophe der Judenvernichtung weltweit einsetzte und 1959 durch Johannes XXIII. und mit dem Vatikanischen Konzil zum Jahrtausendereignis der Abkehr von der Lehre der Verwerfung der Juden und zu einer offenen Sicht auch auf alle anderen Religionen führte. Ausgerechnet der erste deutsche Papst hat in der Liturgiereform einen Schritt zurück zugelassen.
Der erste Aufenthalt in Israel hatte bei mir das Interesse geweckt, das Studium der jüdischen Teile der christlich-theologischen Tradition bei jüdischen Lehrern in Jerusalem fortzusetzen. Seit dem Sommer 1965 arbeitete ich im Rahmen der Vergleichenden Religionswissenschaften an den Texten von Qumran und besuchte mit Staunen und Freude die Vorlesungen und Seminare von David Flusser zu Texten und Themen des Neuen Testaments. Nach und neben dem evangelischen Theologen Michael Krupp und dem katholischen Theologen und späteren Judaisten Peter Schäfer gehörte ich zu den wenigen ersten deutschen Studenten im Land. Mit den Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen, die seit 1961 für längere Zeit in Israel lebten und arbeiteten, stellten wir gleichsam die jugendlichen Außenposten der gesellschaftlichen Gruppen dar, die seit dem Ende der 50er Jahre für eine konsequente Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und insbesondere seit dem Zusammentreffen von Ministerpräsident David Ben Gurion und Kanzler Konrad Adenauer in New York im Jahre 1960 für die diplomatische Anerkennung Israels eintraten.
Wirtschaftliche und militärische Interessen
Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern war allerdings kein unmittelbares Ergebnis der Anstrengungen jener Kreise. Die Einladung des Staatsratsvorsitzenden der DDR Walter Ulbricht zu einem Besuch in Kairo hatte dazu geführt, dass die Bundesrepublik ihre Nahostpolitik überdenken musste. Mit dem Austausch der Botschafter im Mai 1965 kam die Bundesregierung unter Kanzler Ludwig Erhard einem schon 1957 ausgedrückten Interesse Israels entgegen. Zugleich endeten die Jahre der geheimen und auch noch länger geheim gehaltenen militärischen Zusammenarbeit, die nun weniger geheim fortgesetzt wurde und seither ein erschreckendes Maß an Normalität erreicht hat. Die Lieferung deutscher U-Boote, die für den Transport und Abschuss atomarer Sprengköpfe ausgerüstet sind, stellt nur den bekanntesten Ausschnitt dar. In gemeinsamen Unternehmen werden hochtechnologische Waffenkomponenten hergestellt, die weltweit exportiert werden. 2008 wurde ganz offiziell eine Vereinbarung über gegenseitige militärische Ausbildung geschlossen. Soldaten der Bundeswehr üben in Israel den „Kampf im urbanen Raum“ und lassen sich die „Erfahrungen“ israelischer Truppen im Häuserkampf in den besetzten palästinensischen Gebieten weitergeben. So hatten wir uns Anfang der 60er Jahre die Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen nicht vorgestellt. Ein Blick auf die gleichermaßen früh begonnenen und ebenfalls bis heute fortgesetzten Rüstungsexporte in die arabische Welt zeigt, dass die deutsche Außenpolitik die Widersprüchlichkeit ihrer Zielbestimmungen bis heute nicht aufzulösen vermocht hat.

Studenten im Zwiegespräch

Neben dem Studium hatte ich weiter gern Einladungen in Schulklassen und Jugendclubs angenommen, um von der jungen Generation und der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik zu berichten. Dies stieß
insbesondere bei liberalen und linkssozialistischen Kreisen auf Interesse, deren Werte von vielen „Jeckes“ geteilt wurden. Aufgrund des öffentlichen Echos erhielt ich eine Verlängerung meines Stipendiums bis zum Sommer 1967 und konnte den Auftrag des Bundesverbandes Deutsch-Israelischer Studiengruppen (BDIS) übernehmen, Beziehungen zu den israelischen Studentenverbänden aufzubauen. Diese Aufgabe stellte sich allerdings als komplizierter heraus als von Deutschland aus angenommen. Die israelischen Studentenvertreter standen nicht nur der hohen Studiengebühren wegen in Opposition zum dortigen Establishment, das sozialdemokratisch geprägt war, und damit eher rechten Parteien nahe. Diese lehnten Beziehungen mit Deutschland überhaupt ab. Der Weltverband Jüdischer Studenten (WUJS) hatte sich 1962 noch geweigert, die Delegierten des Jüdischen Studentenverbandes in Deutschland zu ihrem Weltkongress zuzulassen. Im Übrigen verfolgte WUJS übergeordnete Interessen und begann schon damals, die Lage der Juden in der Sowjetunion zu thematisieren.
Gemeinsam mit israelischen Altersgenossen bemühten wir uns daher um Kontakt und Austausch mit studentischen Zirkeln in Haifa und Tel Aviv und mit interessierten Gruppen der Jugendverbände der Parteien der Arbeiterbewegung. Wir gaben ein paar Ausgaben einer hebräischsprachigen Zeitschrift mit dem Namen DUSIACH (Dialog) heraus, bis unsere Berichte über die sich in Deutschland kraftvoll entwickelnde studentische Opposition der Deutschen Botschaft nicht mehr genehm waren. Es entstand ein kleines Netzwerk an Kontakten, das zur damals einzigen liberalen jüdischen Gemeinde in Jerusalem, zum dortigen Zentrum der US-amerikanischen Reconstructionists, Beth Hillel, zu den Bildungseinrichtungen der Arbeitspartei in Beth Berl und dem der Kibbuz-Bewegung in Givat Chaviva reichte und Unterstützung von Künstlern, Aktivisten und Schriftstellern erfuhr. Kritiker fanden dieses Spektrum bei weitem zu links. Doch nachdem mit dem Ausgang des Juni-Krieges von 1967 die Frage der Friedensbereitschaft zu einem wesentlichen Kriterium für politische Zusammenarbeit geworden war, stellte sich das für den BDIS aufgebaute Netzwerk als passend heraus für Anfragen und Kontaktwünsche friedenspolitisch interessierter Gruppen im immer breiter werdenden Strom deutscher Besucher, nicht nur der jüngeren Generation. Diesem Strang im bunten Gewebe der Beziehungen soll in diesem Beitrag gefolgt werden. Den einen mag vieles bekannt vorkommen oder auch vertraut sein, andere mögen bisher Unbekanntes erfahren oder auf für sie Fremdes stoßen.

Der Krieg, der keinen Frieden brachte

Der unerwartete und in seinem Ausgang für Israel vordergründig erfolgreiche Juni-Krieg hatte dem öffentlichen deutschen Interesse an Israel keineswegs ein Ende gesetzt. Im Gegenteil, für manche konservativen Kräfte wurde der Blick auf Israel und seine jüdischen Bürger überhaupt erstmals salonfähig. Vor dem Hintergrund der sich 1967 zuspitzenden innenpolitischen Polarisierung und der durch den Vietnamkrieg ausgelösten Positionssuche im internationalistischen Kontext vollzogen manche der bis dahin mit Israel sympathisierenden Gruppen einen radikalen Wechsel und ergriffen für die Palästinenser und deren bewaffneten Kampf um die Befreiung Palästinas Partei. Die terroristischen Aktionen palästinensischer Gruppen erreichten deutschen Boden mit dem barbarischen Überfall auf das israelische Team während der Olympischen Spiele von 1972 in München. Die Mehrheit der politisch aufgeschlossenen Jugendlichen und Studenten blieb an Israel interessiert, kritischer als zuvor und in der von den meisten Bürgern Israels und politischen Beobachtern
geteilten Erwartung, dass sich nach dem Prinzip „Land gegen Frieden“ gemäß der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates vom November 1967 bald eine Konfliktregelung zwischen Israel und der arabischen Welt ergeben werde, die auch den palästinensischen Flüchtlingen eine bessere Zukunft bringen würde.
Doch das Telefon, auf dem unmittelbar nach dem Krieg von 1967 mancher israelische Politiker den Anruf aus einer arabischen Hauptstadt erwartete, blieb stumm. Und das dreifache Nein zu Frieden, Anerkennung und Verhandlungen, das die Arabische Gipfelkonferenz am 1. September 1967 in Khartum verkündete, war das Gegenteil von dem, worauf viele Israelis gehofft hatten. Den Weitsichtigen unter ihnen war klar, dass mit der militärisch unnötigen Eroberung Jerusalems und des Westjordanlandes und der dadurch erlangten Herrschaft über ganz Palästina die gewaltige Aufgabe anstand, den durch die Waffenstillstandsvereinbarungen von 1949 nur geographisch eingefrorenen Konflikt zwischen der jüdischen und arabischen Nationalbewegung einer grundsätzlichen Lösung zuzuführen und zu befrieden. Das konnte nur durch einen historischen Kompromiss gelingen.
Aus den inzwischen frei gegebenen Akten, auf die sich auch Idith Zerkal und Akiva Eldar beziehen, wissen wir heute, dass zu diesen Weitsichtigen auch Leitende der Nachrichtendienste gehörten, die unmittelbar nach dem Krieg der Regierung Levi Eshkol in einem Memorandum vorschlugen, ein unabhängiger palästinensischer Staat sei so schnell wie möglich zu errichten, „unter der Schirmherrschaft der Armee“ und „in Übereinstimmung mit der palästinensischen Führung“. Der palästinensische Staat solle auf dem Gebiet der Westbank und des Gazastreifens entstehen und auf den Waffenstillstandslinien von 1949 basieren mit kleinen Änderungen in Jerusalem, der Enklave von Jerusalem und der Gilboa-Region. Israel solle die Initiative übernehmen, das Problem der Flüchtlinge einer endgültigen Lösung zuzuführen und sich an die Spitze eines internationalen Projekts stellen, um die Flüchtlinge zu repatriieren und wieder anzusiedeln. Die führenden Vertreter der Arbeitspartei, von denen einige wie Moshe Dayan die auf eine „Neuordnung des Nahen Ostens“ zielende nationalistische Politik David Ben Gurions fortsetzten, andere wie Jigal Allon die Grundideen der revisionistischen Bewegung durchaus teilten und schließlich jene, die der gemäßigten Haltung von Moshe Sharett und Nachum Goldmann folgten, konnten sich nicht einigen. Die besetzten Gebiete blieben daher unter israelischer Besatzung, den einen als Faustpfand zum Frieden, den anderen als Basis zur Festigung der Sicherheit Israels, der dritten Gruppe, die bald Verstärkung aus dem religiösen und rechten Lager bekommen sollte, als Sprungbrett ins dritte israelitische Königreich.

Die Welt der Kibbuzim

Die jungen und älteren deutschen Besucher Israels waren mit der damals schon 70 Jahre alten Geschichte des Zionismus, der Vorgeschichte des jüdisch-arabischen Konflikts zumeist unvertraut und brachten ihre nicht immer bewussten biographischen Zusammenhänge mit der ungeheuerlichen Katastrophe der Judenvernichtung und ihre ganz persönlichen Interessen mit. Diese galten in den 60er Jahren zunächst vor allem zwei Bereichen der israelischen Gesellschaft, der Kibbuz-Bewegung mit ihren Gemeinschaftsideen und Erziehungsmodellen und den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen der Histadrut. Der gewerkschaftliche Jugendaustausch entwickelte sich auf der Basis der 1957 begonnenen Zusammenarbeit der nationalen Gewerkschaftsverbände beider Länder, die 1975 in
einem weltweit einmaligen Partnerschaftsabkommen ihren Ausdruck fand. Unter den 40.000 jungen Deutschen, die allein zwischen 1959 und 1965 Israel besucht hatten, fanden sich daher politisch und kirchlich Interessierte ebenso wie junge Gewerkschaftler, bald auch Sportler und Mitglieder anderer Jugendverbände. Der Jugendaustausch erreichte im Jahre 1988 mit mehr als 6000 Teilnehmenden seinen zahlenmäßigen Höhepunkt. Inzwischen haben mehr als 500.000 Jugendliche an Begegnungsprogrammen teilgenommen. In den Phasen der Zuspitzung des Konflikts ist die Zahl der außerdem touristisch nach Israel Reisenden jeweils zurückgegangen. In den letzten 10 Jahren hat sie wieder stark zugenommen und inzwischen mit Kreuzfahrtreisenden die Marke von jährlich 200.000 Besuchern überschritten. Beim Badeurlaub in Eilat lässt sich der ungelöste israelisch-palästinensische Konflikt in der Regel leicht in den Hintergrund schieben.
Während im Rahmen der sich seit den 60er Jahren ausweitenden Städtepartnerschaften die Unterbringung in Familien zunahm, waren es zunächst vor allem die dazu bereiten Kibbuzim, die deutsche Jugendliche zum Kennenlernen und zu Arbeitseinsätzen aufnahmen. Es entstanden Freundschaften und Forschungsvorhaben. Vor allem in den 70er Jahren regten die persönlichen Erfahrungen zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten insbesondere zu den Fragen der Erziehung im Kibbuz an. Nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe des Buches von Bruno Bettelheim über die Kinder der Zukunft im Jahre 1973 erreichte die Debatte auch die Feuilletons deutscher Zeitungen. Der in der Schriftenreihe des DIAK erschienene Kibbuz-Leitfaden wurde in seiner 2. Auflage zum Longseller, da die Kibbuzim weiterhin an Freiwilligen interessiert sind und ihre Gästehäuser auch im Rahmen von touristischen Reisen gern genutzt werden. Ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat mit der Zunahme der Gesamtbevölkerung Israels und unter dem Druck der neo-liberalen Wirtschaftsentwicklung abgenommen. Über die rechten Parteien hinaus wurde statt des sozialistischen der religiöse Siedler zum Idol. Doch die Bildungsarbeit in den zentralen Einrichtungen der Kibbuz-Bewegung ist eine wichtige Säule jüdisch-arabischer Annäherung geblieben. Viele der Aktivisten der Friedensbewegung kamen und kommen bis heute aus Kibbuzim. Der 1927 in Düsseldorf geborene Elieser Feiler lebte und wirkte im sogenannten kommunistischen Kibbuz Yad Chana. Ebenfalls von deutsch-jüdisch humanistischer Tradition geprägt, gehörte er mit seiner Frau zu den Freunden der Arbeit von Aktion Sühnezeichen und war in vielfachen Funktionen für jüdisch-arabische Zusammenarbeit engagiert. Bei den in Deutschland seit den 90er Jahren wieder zunehmenden Initiativen zu kindgemäßer Erziehung und gemeinschaftlichem Leben finden sich jedoch keine Bezugnahmen mehr auf die Jahrzehnte langen Erfahrungen der israelischen Kibbuzim und auf die deutschen Reflektionen darüber.

Die getrennt gehaltene Minderheit

Ein anderer Bereich der israelischen Gesellschaft und ein wichtiger und vernachlässigter Brückenbogen auf dem Weg zur Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern ist in der früher so bedeutsamen Welt der Kibbuzim allerdings nur am Rande anzutreffen gewesen: die damals wie heute knapp ein Fünftel der Bevölkerung Israels stellende arabische Minderheit. Als uns 1963 auf Vermittlung von Hanni Ullmann ein arabischer lutherischer Pastor in die Dörfer des unteren Galiläa führte, unterstanden die Bewohner noch der Militärverwaltung. Für Fahrten außerhalb ihrer Ortschaften benötigten sie eine entsprechende Erlaubnis des Militärgouverneurs. Auch andere Einschränkungen des alltäglichen Lebens und
wirtschaftlicher Aktivitäten hatten sie hinzunehmen. Die Beschlagnahme von Eigentum und Böden traf sie am härtesten. Juristische Grundlage der Militärverwaltung war die Notstandsgesetzgebung der britischen Mandatsmacht aus dem Jahre 1945, die sich gegen die Unabhängigkeitspläne des jüdischen Gemeinwesens in Palästina gerichtet hatte. Die Militärverwaltung über Bewohner arabischer Ortschaften wurde im Jahre 1966 aufgehoben. Doch der nationale Notstand, den Israel mit der Staatsgründung im Mai 1948 erklärte, dauert bis heute an und wurde unabhängig von der jeweiligen politischen Situation regelmäßig verlängert.
Die Situation der arabisch-palästinensischen Staatsbürger Israels ist auch nach 1966 durch die eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Ortschaften und eine weitgehende Trennung von der jüdischen Bevölkerungsmehrheit bestimmt worden. Selbst in den wenigen gemischten Stadtvierteln der ursprünglich mehrheitlich arabisch bewohnten Städte wie Haifa und Akko, Jaffa und Lod gab es kaum Gemeinsamkeiten. Die Erziehung der jungen Generation erfolgt ganz überwiegend in getrennten Schulen. So begegnen sich jüdische und arabisch-palästinensische junge Bürger häufig erstmals an einer der Hochschulen des Landes, am ehesten in Haifa. Mehr als sechs Jahrzehnte nach der Staatsgründung erklärten in einer Umfrage aus dem Juni 2015 fünfunddreißig Prozent der befragten 12- bis18-jährigen jüdischen Israelis, sie hätten noch nie mit einem arabischen Jugendlichen gesprochen. Siebenundzwanzig Prozent der arabischen Befragten gaben an, noch keinem jüdischen Teenager begegnet zu sein.
In diese abgetrennte und bis heute auch von deutschen Besuchern häufig noch übersehene Welt führte mich Latif Dori ein. Er wurde 1934 als Kind wohlhabender jüdischer Eltern in Bagdad geboren und, wie er selbst sagt, im Alter von 17 Jahren in den neu entstandenen Staat gebracht, ohne humanistische Bildung, doch mit dem Humanismus im Herzen. Er schloss sich der Mapam-Partei an, war zunächst Sekretär, ab 1955 Leiter ihrer arabischen Abteilung und widmete sich dieser Aufgabe mit Hingabe über Jahrzehnte, seit 1992 und bis zu seinem Ruhestand unter dem Dach des Wahlbündnisses Meretz (Kraft), das 1996 zur eigenständigen Partei geworden war. Latif Dori besaß unter der arabisch-palästinensischen Bevölkerung besonderes Vertrauen, seitdem er als erster Unbeteiligter das Dorf Kfar Kassem erreichte, in dem Soldaten der israelischen Grenztruppe am ersten Tag des Sinai-Krieges im Oktober 1956 achtundvierzig Dorfbewohner bei der Rückkehr von ihren Feldern kaltblütig erschossen hatten. Die Rückkehrenden hatten keine Kenntnis von der strikten Ausgangssperre, die das Militär zwischenzeitlich über die gesamte Region verhängt hatte. Nach mehrwöchigem Veröffentlichungsverbot durch die Militärzensur musste die israelische Regierung die Geschehnisse einräumen. Zwei Jahre später wurden die verantwortlichen Soldaten vor Gericht gestellt und verurteilt, befanden sich allerdings im November 1959 schon wieder auf freiem Fuß. Das Massaker löste eine bis heute immer wieder aufflammende Debatte um die Gültigkeit rechtswidriger Befehle aus. Am 26. Oktober 2014 nahm Präsident Rivlin an der jährlichen Gedenkfeier der Dorfgemeinschaft von Kfar Kassem teil, nannte das Geschehen beim Wort und bezeichnete es als ein schreckliches Verbrechen, das schwer auf dem kollektiven Gewissen des Staates Israel laste.
Angehörige der arabisch-palästinensischen Minderheit wurden von der ersten Wahl an als Abgeordnete in das israelische Parlament gewählt, regional über eigene Listen, landesweit zunächst vor allem über die Listen jüdisch-arabischer und
jüdischer Parteien. Im Laufe der 80er Jahre entstanden eigenständige arabische Parteien, die 1996 erstmals die Vereinigte Arabische Liste aufstellten. Für die gesellschaftliche Situation Israels ist bezeichnend, dass über die ersten fünf Jahrzehnte seines Bestehens eine Beteiligung arabischer Abgeordneter an den Koalitionen, welche die Regierung trugen, nicht erwogen wurde. Ministerpräsident Rabin war der erste und einzige Regierungschef, der die Zustimmung arabischer Abgeordneter suchte, um für die Annahme der Oslo-Verträge im Parlament eine Mehrheit zu sichern. Ehud Barak fehlten 2001 beim Kampf um seine Wiederwahl auch die Stimmen der arabischen Wähler. Bei einer Wahlbeteiligung von nur 62 Prozent konnte Ariel Sharon Ministerpräsident werden, der Politiker, der die Vorstellungen Ben Gurions und Dayans am hartnäckigsten umzusetzen suchte. Auch Chaim Herzog ging im Frühjahr 2015 kein Bündnis mit den arabischen Parteien ein und scheiterte bei seinem Versuch, Benjamin Netanjahu als Ministerpräsident abzulösen.

Vom Nebeneinander zum Miteinander ?

Die weitgehende Trennung zwischen dem jüdischen und dem arabischen Bevölkerungsteil ganz praktisch zu überwinden und ein Zeichen der Gemeinsamkeit zu setzen, war das Anliegen des jüdisch-arabischen Friedensdorfes Neve Shalom/Wahat al-Salam. Der in Ägypten von jüdischen Eltern geborene Bruno Hussar, der später Dominikaner geworden und als Mönch nach Jerusalem gegangen war, pachtete vom Kloster der Trappisten bei Latrun Land, auf dem sich Neve Shalom entwickelte. Ein wesentlicher Baustein ist die eigene Schule, in der nicht nur Kinder aus dem Dorf in Arabisch und Hebräisch unterrichtet werden. In den zurückliegenden Jahrzehnten sind ein Gästehaus, eine Friedensschule und ein Interspirituelles Zentrum entstanden, ein College für Friedensarbeiter ist in Planung. In den Räumen und Zelten von Neve Shalom haben zahlreiche Treffen der israelischen Friedensbewegung stattgefunden.
In den letzten Jahren haben zivilgesellschaftliche Initiativen damit begonnen, weitere Projekte gemeinschaftlicher jüdisch-arabischer Erziehung aufzubauen, auch um den friedenspolitischen Stillstand sozusagen von unten her zu überwinden. Das „Hand in Hand“-Zentrum für Jüdisch-Arabische Erziehung hat seit 1998 zweisprachige Schulen in Jerusalem und in Galiläa aufgebaut und entsprechende Vorschulen in Haifa, Jaffa und Beersheva. 2004 wurde eine weitere Schule in Kfar Kara in der Wadi Ara-Region aufgebaut, wo nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahre 2000 dreizehn arabische Bürger bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet worden waren. Auf die Schule in Jerusalem wurde im November 2014 ein Brandanschlag verübt, als dessen Täter Anhänger der rechtsextremen „Lehava“-Organisation ermittelt wurden, einer Gruppe, die jüdische Assimilation grundsätzlich ablehnt und Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden zu verhindern sucht. Staatspräsident Reuven Rivlin, der nach dem Brandanschlag Vertreter der Schule eingeladen hatte, schuf in der Folge den „Orden des Präsidenten für eine Erziehung zum Zusammenleben“, der im Juni 2015 erstmals an vier Schulen verliehen wurde. Da das Interesse jüdischer Eltern und Schüler an Kenntnis des Arabischen allgemein gewachsen ist, richtete das Erziehungsministerium im Jahr 2010 für die zunächst 170 öffentlich-rechtlichen Schulen in Israels Norden Arabisch als Pflichtfach ab der 5. Klasse ein. Bei der Vorstellung der Pläne für die seit der Staatsgründung ersten Stadt in überwiegend arabisch bewohnten Gebieten in der Nähe von Akko erklärten die Vertreter des Nationalen Planungsrates, dass die 40.000 Wohnungen gemäß der
bisherigen Politik der Trennung nur von arabisch-israelischen Bürgern erworben werden können.

Abgewertete Kultur

Nicht viele Israelis orientalischer Herkunft hatten es so leicht wie Latif Dori, ihre Herkunft und ihre Muttersprache mit ihrem politischen und beruflichen Engagement zu verbinden. Nachdem er schon 1967 Sekretär der ein Ende der Besatzung anstrebenden „Bewegung für Frieden und Sicherheit“ geworden war, schuf er 1986 den Rat für israelisch-palästinensischen Dialog mit dem Namenszusatz „gegründet von Angehörigen orientalischer Gemeinschaften“. Der ausdrückliche Hinweis auf die orientalische Herkunft ist in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung keineswegs allgemein als Empfehlung aufgefasst worden. Auf die Missstände, unter der ihre Bevölkerungsgruppe zu leiden hatte, wiesen Anfang der 70er Jahre öffentlichkeitswirksam die israelischen Schwarzen Panther hin. Diesen provokativen Namen wählte sich eine kleine Gruppe Jugendlicher aus dem Jerusalemer Stadtviertel Musrara, deren Familien zumeist aus Marokko eingewandert waren. Ihre mutigen und phantasievollen Protestaktionen im Frühjahr 1971 führten dazu, dass Israels Regierung erstmals eine Kommission einsetzen musste, die nach Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse feststellte, dass die Behauptungen der Panther zutrafen und die orientalische Bevölkerung auf vielfache Weise diskriminiert werde. Der Bewegung der Schwarzen Panther kommt das Verdienst zu, die unterprivilegierte Situation der aus arabischen Ländern stammenden Israelis auf die politische Tagesordnung gebracht zu haben. Die von den Panthern aufgeweckten israelisch-orientalischen Bürger wählten allerdings erst einmal die damalige Opposition, also rechte Parteien. Die streng orthodoxe Schas-Partei, die sich 1984 bildete und mit ihrem Namen „Sefardische Tora-Wächter“ sowohl ihre orientalische Orientierung wie ihre streng orthodoxe Haltung zu erkennen gibt, präsentierte sich besonders erfolgreich als Anwalt orientalischer Interessen. Ihre geistlichen Autoritäten haben allerdings das Prinzip Land gegen Frieden grundsätzlich bestätigt, weshalb die Partei nach dem 1977 begonnenen Eintritt in Koalitionen mit dem Likud und zeitweise mit der Meretz-Partei die Regierung von Ministerpräsident Rabin und später wieder die Regierung von Ministerpräsident Barak stützte.
Die frühen Panther-Aktivisten blieben ihrem Anliegen gesellschaftlicher Veränderung treu. Charlie Biton und Saadia Marciano wurden über Listenverbindungen von linken und jüdisch-arabischen Parteien in die Knesset gewählt. Kochavi Shemesh leitete eine israelische Delegation, die 1990 in Moskau die Sorgen der unterprivilegierten Orientalen im Blick auf die einsetzende Einwanderung sowjetischer Juden ausdrückte. Mit 60 Jahren schloss er ein Jurastudium ab, wurde Anwalt und auch für die Bürgerrechtsvereinigung ACRI aktiv. Deren Aktivisten setzen sich für ein Ende der Besatzung ein, weil sie der Überzeugung sind, dass deren Finanzierung zu Lasten einer sozial gerechteren Entwicklung in Israel selbst geht. Diesen Zusammenhang sehen nicht alle jüdischen Bewohner der vor allem im Großraum Tel Aviv gelegenen Armenviertel. In den 60er Jahren entluden sich deren Frustrationen in Zusammenstößen mit den arabischen Bewohnern. In jüngster Zeit trifft es die aus Afrika über den Sinai gekommenen Flüchtlinge, um deren Verbringung in eingezäunte Lager es öffentliche Diskussionen und schwierige juristische Auseinandersetzungen gibt. Denn Israel räumt zwar jedem Juden auf der Welt das Recht auf Einwanderung ein, ein Asylgesetz gibt es nicht. Die jüdisch-arabische
Bürgerinitiative „Tarabut-Hitchabruth“ (Befreundung) organisiert solidarische Aktionen und ermutigt das Eintreten für soziale und politische Veränderungen. Sie setzt sich auch für die Rechte der bedrängten und von Vertreibung bedrohten Beduinen im Land ein. In Tel Aviv ist die Initiative an der 2007 gegründeten Liste „A City for all“ beteiligt. In ihr arbeitet auch Reuven Abergil mit, der vierte im Kreis der Mitgründer der Panther.

Bundesverband Deutsch-Israelischer Studiengruppen

Die Nöte, auf welche die Schwarzen Panther aufmerksam gemacht hatten, gehörten wie die Entwicklungen in den zuvor angesprochenen Bereichen zu den Fragen, die den Bundesverband Deutsch-Israelischer Studiengruppen (BDIS) beschäftigten, um in der nach dem Krieg von 1967 höchst polarisiert geführten Debatte um Israel und Palästina zur Differenzierung beitragen zu können. Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen (DIS) waren seit dem Ende der 50er Jahre entschieden zugleich gegen reaktionäre und antisemitische Tendenzen wie für die Anerkennung Israels eingetreten. Mit der Bildung der ersten Großen Koalition waren in studentischen Kreisen veränderte gesellschaftliche Fragestellungen in den Vordergrund getreten. Der sich erweiternde Blick auf die Länder der Dritten Welt legte die Beschäftigung mit anderen Regionen der Welt nahe. Zum Nahen Osten verantwortlich Position zu beziehen, war mühsam geworden. Die Redaktion der Zeitschrift „DISkussion“ konnte sich nicht länger auf eine gemeinsame Linie verständigen. Zahlreiche DIS-Gruppen verloren ihre Mitglieder, ohne neue zu finden. Der Bundesverband hielt anders als von Andersdenkenden öffentlich dargestellt an kritischer Solidarität mit Israel fest, bejahte das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, sah die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Problematik der Imperialismus-Analyse. So formulierte es Martin Huhn, als er den BDIS 1970 in der bisher allein vom Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit herausgegebenen Zeitschrift „EMUNA“ (Glaube) vorstellte. Der Koordinierungsrat hatte sich bereit erklärt, den alten Namen um den Zusatz „Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum“ zu erweitern und die Deutsch-Israelische Gesellschaft, die Kölner Bibliothek Germania Judaica und den BDIS in Verbindung mit dem Bundesverband Jüdischer Studenten an der Redaktion zu beteiligen. Wache Aufgeschlossenheit, engagierte Betroffenheit und kritische Solidarität sollten als Kriterien dienen. Doch ein Jahr später verließen die Vertreter von Bibliothek Germania Judaica und BDIS die Redaktion, weil es schwierig geworden war, die vorgenommenen Kriterien inhaltlich so zu bestimmen, dass alle Beteiligten ihre Umsetzung hätten mittragen können. Für den BDIS war dies eine seiner letzten Initiativen. Zuletzt fanden sich nicht mehr genügend Delegierte aus Ortsgruppen, um den Verband ordnungsgemäß aufzulösen.

Die Wirklichkeit hinter den Mythen

Bei der Vorbereitung von Freiwilligen von ASF und von Studiengruppen, die von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung gefördert wurden, bekam ich wie andere in diesem Feld Tätige den Eindruck, dass es notwendig sei, die bis dahin zur Verfügung stehende Literatur durch eine Darstellung zu ergänzen, die auch zur Auseinandersetzung mit kritischen Nachfragen befähige. Es entstand der Band, der 1970 unter dem Titel „Israel“ erschien, in den weiteren Auflagen 1973 und 1975 den Titel „Israel in Nahost“ trug. Der Soziologe Hermann Meier-Cronemeyer, der nach Aufenthalten in Israel mit einer Arbeit über die Kibbuzim promoviert worden war und die Geschichte der deutschen und jüdischen Jugendbewegung erforscht hatte,
schrieb zur Einführung in die Vorgeschichte Israels den Beitrag über Zionismus. Rolf Rendtorff stellte die Rolle der Religion in der Gesellschaft dar. In meiner zusammenfassenden Darstellung des Nahostkonflikts konnte ich mich nur auf die damals vorhandene Literatur stützen, die ich allerdings nach Kriterien ausgesucht hatte, die mir von Simcha Flapan vermittelt worden waren. Simcha Flapan, der langjährige Leiter der arabischen Abteilung der „Mapam“ und Herausgeber der international beachteten Zeitschrift „New Outlook“, stellte seine Sicht in dem Buch „Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit“ dar, das erst 1987 posthum erschien. Flapans Sicht wurde bestätigt, differenziert und erweitert von den so genannten Neuen Historikern, denen inzwischen erlaubt war, die Kriegstagebücher von Ben Gurion und die Akten der Militärarchive auszuwerten. Auf die Ergebnisse dieser Forscher, zu denen Tom Segev, Benny Morris, Avi Shlaim und Ilan Pappe gehörten, reagierte die jüdisch-israelische Öffentlichkeit mit Erschrecken und Abwehr, weil sie im Kern die Auffassung der arabischen Palästinenser von den damaligen Ereignissen als „Nakba“, als deren Katastrophe bestätigten. Benny Morris distanzierte sich später von der Forderung nach Anerkennung der Rechte der Palästinenser, die seine Kollegen aus ihren Ergebnissen abgeleitet hatten. Die neo-zionistisch eingestellten Kräfte wollten bereits die öffentliche Erwähnung des Begriffs „Nakba“ verbieten lassen. Nach heftigen Protesten verabschiedete das Parlament im März 2011 ein Gesetz, das arabisch-israelischen Organisationen, die am Tag der Staatsgründung Israels Feiern zum Gedenken an die „Nakba“ abhalten, der Verlust staatlicher Fördermittel androht. Dieses Gesetz wurde im Januar 2012 vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Der 2002 gegründete Verein „Zochrot“ (Erinnerungen) sammelt demgegenüber weiterhin erschütternde Aussagen von Zeitzeugen und weist auf zerstörte palästinensische Orte und Plätze hin.
Hermann Meier-Cronemeyers Arbeit, die mit den Anfängen zionistischer Gruppen im 19. Jahrhundert einsetzt und auf die Staatsgründung nur ausblickt, ist in ihren Grundzügen bis heute zutreffend geblieben. Aus diesem durchweg empathisch geschriebenen Aufsatz sei die Stelle zitiert, in der er den Wertmaßstab beschreibt, der sich ihm in der Studie bestätigt hat. „Jedem Nationalismus wohnt … ein totalitäres Moment inne, sofern er das Selbstbestimmungsrecht der Menschen an das Selbstbestimmungsrecht des Volkes im Nationalstaat bindet, sich also nach innen gegen Minoritäten, welche die eigene Tradition nicht teilen, abschirmen oder aber sie zur Assimilation zwingen muss.“ Dieser Maßstab erwuchs Meier-Cronemeyer aus der gewissenhaften Reflektion der Völkerkämpfe im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts und hat für viele meiner Generation ganz allgemeine Gültigkeit, also auch im Blick auf den jüdischen wie auf den arabisch-palästinensischen Nationalismus.

Deutsch-Israelische Gesellschaft – Lobbygruppe oder ?

Der Frage nach den geeigneten Maßstäben in der Diskussion um die in Israel seit 1967 immer umstrittener gewordenen Grundfragen jüdischer Existenz und israelischer Zukunft konnte auch die DIG nicht ausweichen, die im Juni 1966 gegründet worden war. Einer der maßgeblichen Initiatoren der Gesellschaft war der evangelische Theologe und Professor für Altes Testament Rolf Rendtorff gewesen. Als Dozent an der Kirchlichen Hochschule Berlin hatte er sich 1962 von der Begeisterung seiner Studenten mitreißen lassen und an einer von der dortigen DIS durchgeführten Studienreise nach Israel teilgenommen. Ich finde es bis heute eine staunenswerte Leistung, dass ein gestandener Akademiker, der bis dahin sein
Interesse auf den Orient als historische Größe gerichtet hatte und seinen Forschungen in der arabischen Welt nachgegangen war, sich bereitfand, das Land auf der anderen Seiten des Jordans anzuschauen und sich auf die lebendige Gegenwart seines Forschungsthemas einzulassen. Wie Rolf Rendtorff in seinen Erinnerungen unter dem Titel „Kontinuität im Widerspruch“ erzählt, hat diese Reise sein Leben verändert. Nach seiner Rückkehr begann er unter den vielen, die in kirchlichen, gewerkschaftlichen und politischen Kreisen die diplomatische Anerkennung Israels für überfällig ansahen, nach Mitstreitern zu suchen für den Aufbau einer Deutsch-Israelischen Gesellschaft, die für dieses Ziel eintreten sollte.
Nachdem 1965 die Entscheidung zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen gefallen war, erweiterte sich der Kreis der an der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Interessierten. Nun sollte auch auf parteipolitische Ausgewogenheit geachtet werden. Vor allem stand zu klären an, wer das Gegenüber einer Gesellschaft sein sollte, die aus spezifischen zivilgesellschaftlichen Impulsen entstanden war und sich vornahm, Freundschaft zu stiften. Galt es, sich an den vielfältigen und unterschiedlichen Wünschen der Interessierten beider Länder zu orientieren oder an den Interessen ihrer Regierungen und Botschaften? Dieses auch anderen zwischenstaatlichen Gesellschaften bekannte Dilemma zwischen den Aufgaben einer Lobbygruppe und denen von Freundschaftsvereinen wurde mit dem Ausgang des Junikrieges und angesichts der in Israel selbst so umstrittenen Frage nach den Voraussetzungen einer friedlichen Zukunft zunächst lebhaftes Diskussionsthema. Es kam zum öffentlichen Konflikt, als der dritte Botschafter Israels in Bonn das Präsidium der Gesellschaft im Jahr 1976 vor die Wahl stellte, sich zwischen ihrem Geschäftsführer Reiner Bernstein und guten Arbeitsbeziehungen zur Botschaft zu entscheiden.
Ob Botschafter Jochanan Meroz bewusst war, welches Signal er damit setzte, dass er ausgerechnet die von Reiner Bernstein vorbereitete Einladung an den über Israel hinaus geachteten Jerusalemer Pädagogen und Religionsphilosophen Ernst Simon zum Anlass seiner Demarche machte? Simon, wie Meroz in Berlin geboren, war ein jüngerer Wegbegleiter und Freund Martin Bubers gewesen, hatte mit ihm im „Brit Schalom“, dem 1925 entstandenen jüdisch-arabischen Friedensbund mitgewirkt und war den mit Buber gemeinsamen Überzeugungen treu geblieben. Sollten die in den 70er Jahren als überholt gelten? Im Abschiedsgeschenk von Ernst Simon an mich, einem Exemplar von Heft 33 des Bulletin des Leo Baeck Instituts aus dem Jahr 1966, ist sein Aufsatz veröffentlicht „Nationalismus, Zionismus und der Jüdisch-Arabische Konflikt in Martin Bubers Theorie und Wirksamkeit“. Im Licht der Forschungen der Neuen israelischen Historiker erscheint Bubers Zusammenfassung aus dem Jahre 1953 heute noch leichter nachvollziehbar:
„An die Stelle des langsamen Nachströmens chaluzischer Werkbegeisterung trat das Drängen der vor dem Verderben drängenden Massen, und die ungeheure Tatsache ihres Drängens erwirkte von der Welt die Ermöglichung des Judenstaats… Anstatt eines auf die Kooperation mit den Völkern Vorderasiens gegründeten Gemeinwesens erstand im erfolgreichen Kampf gegen alle Nachbarn ein Staat, der ihnen als Raubstaat gelten mag.“ Bubers von vielen bejahte Schlussfolgerung: „Es kann heute keinen Frieden zwischen Juden und Arabern geben, der nur ein Aufhören des Krieges wäre; es kann nur noch einen Frieden der echten Zusammenarbeit geben.“ Mit weitem Blick hatte sich Buber damals auch für die zukünftige Möglichkeit einer Föderation offen gehalten. „Es gilt, soweit es von uns abhängt, den Boden dafür vorzubereiten.“
Reiner Bernstein, der mit einer Arbeit über den Jüdischen „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ promoviert worden war und das Judentum sowie den Staat Israel in Nahost zu seinem Lebensthema gemacht hatte, wurde entlassen. Jochanan Meroz, der als junger Erwachsener die „Mapam“ verlassen hatte und parteilos geblieben war, blieb in Bonn, auch nachdem Menachem Begin im Mai 1977 Ministerpräsident geworden war. Als Botschafter vertrat Meroz auch die Kritik seiner Regierung gegenüber Kanzler Helmut Schmidt, wahrscheinlich ohne seinerzeit zu wissen, dass Menachem Begin hinter dem 1952 versuchten Bombenanschlag auf Kanzler Konrad Adenauer gestanden hatte.

Deutsch-Israelischer Arbeitskreis – Israelis und Palästinenser im Blick

Eine Gruppe von Mitgliedern der DIG, die eine Koppelung der Arbeit an die Vorgaben welcher Regierung auch immer grundsätzlich ablehnte, fand sich im Juni 1977 zusammen und gründete den „Deutsch-Israelischen Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten“ (DIAK). Seine Mitglieder meinten, der Verbundenheit mit den Menschen in Israel und der Zukunft Israels am besten dadurch zu dienen, dass sie bei der Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen für die Beachtung des historischen und politischen Zusammenhangs mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt eintraten. Auf die Initiativen zur Verständigung zwischen jüdischen Israelis und arabischen Palästinensern aufmerksam zu machen, war ein wichtiger Aspekt ihres Engagements. Daher gaben die Gründer ihrer Zeitschrift den Titel „Israel & Palästina“. Die ersten der inzwischen 41 Bände der Schriftenreihe des DIAK prägte maßgeblich Reiner Bernstein. Später übernahmen Jüngere die Arbeit im Vorstand und an den Publikationen. Manche von ihnen machten ihr Engagement für Israel und den Frieden zum Beruf. Christian Sterzing vertrat von 2004 bis 2009 die Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, Jörn Böhme arbeitete nahezu zeitgleich in derselben Funktion in Tel Aviv, bevor er Nahostreferent der Bundestagsfraktion der GRÜNEN wurde. Rolf Rendtorff, der neben seiner Forschungsarbeit als Bibelwissenschaftler in der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag engagiert war und die Studienkommission Kirche und Judentum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) leitete, war zum Unverständnis vieler wieder einmal mit den Jüngeren gegangen und stand ihnen als Vorsitzender und Ehrenvorsitzender des DIAK bis zuletzt zur Seite. Ich habe erst nach seinem Tod im April 2014 wirklich verstanden, wie tief das Schicksal seiner Familie in der Zeit des Nationalsozialismus und sein eigenes Überleben im Krieg sein Menschenbild bestimmt hatte, so dass die in der Mitte seines Lebens entdeckte Leidenschaft für Israel und das Judentum an die unbedingte Achtung der Menschlichkeit gebunden blieb.
Der Deutsch-Israelische Arbeitskreis, den Botschafter Meroz in seinen Memoiren als Verein beschrieben hat, dessen Name „bezeichnenderweise“ Israel nicht erwähnt und dessen Aktivitäten „in kurzer Zeit“ im Sand versickerten (S.166), bemühte sich in den folgenden Jahrzehnten, das Ringen um Schritte zum Frieden in der Region so gut wie möglich zu begleiten und in Zeitschrift und Schriftenreihe publizistisch zu vermitteln, auch wenn in vielen Fällen das vorläufige Scheitern zu dokumentieren war. Schlaglichtartig sei dieses Ringen beschrieben, das ja für alle an den Beziehungen Mitwirkenden den zeitgeschichtlichen Kontext darstellt.

Die Siedler Gottes

Den Kern der Gegner eines Rückzug Israels und palästinensischer Unabhängigkeit bildeten die nationalreligiösen Zionisten, die in der Nachfolge von Rabbiner Abraham Isaac Hacohen Kook, dem ersten aschkenasischen Oberrabbiner in Palästina, und in der Interpretation seines Sohnes Zwi Jehuda Kook die Ansiedlung säkularer Einwanderer fundamentalreligiös zum Erlösungswerk aufgeladen hatten. Sie deuteten den Ausgang des Krieges von 1967 geschichtstheologisch, und die Gebiete, die sie bei ihren biblischen Namen Jehuda und Shomron (Judäa und Samarien) nannten, sahen sie samt Jerusalem als Geschenk Gottes an. Die Tel Aviver Politologin Idith Zertal, die sorgsame Analytikerin der israelischen Siedlerbewegung, weist in dem mit Akiva Eldar veröffentlichten Buch „Herren des Landes“ darauf hin, dass die Fanatischsten unter den religiösen Neozionisten sich gerade zu dem Zeitpunkt zusammenschlossen, an dem das Prinzip „Land gegen Frieden“ zur realen historischen Möglichkeit wurde.
Nach dem Oktober-Krieg von 1973 öffnete sich die Perspektive, im Austausch gegen den Sinai Frieden zunächst mit Ägypten zu erreichen. Die drohende Aufgabe von Gebieten veranlasste die Radikalen der nationalreligiösen Bewegung, im Juli 1974 den „Gush Emunim“ zu gründen, den Block der Glaubensgetreuen. Mit seinen Siedlern wurde er in der Nähe von Hebron aktiv, jenem Ort, in dem 1929 arabische Fanatiker unter den seit Generationen dort lebenden jüdisch-chassidischen Einwohnern ein blutiges Massaker angerichtet hatten. Hierher sollten Juden, nun jüdische Israelis, wieder zurückkehren. Von Hebron aus wurde der Siedlungsprozess zielstrebig fortgesetzt, in dem rücksichtslos und rechtswidrig Fakten geschaffen wurden, denen die Arbeiterpartei unentschlossen begegnete, teils zustimmend, teils nachgebend, selten mit konsequentem Widerstand. Begrüßt und unterstützt wurden die Siedlungen von dem rechten Wahlbündnis, das nach den Parlamentswahlen im Mai 1977 stärkste Fraktion geworden war und deshalb die Regierung zu stellen vermochte, weil die religiösen Parteien zum ersten Mal in der Geschichte des Landes das Bündnis mit den Arbeiterparteien aufkündigten und ins nationalistische Lager umschwenkten. Unter der Regierung von Menachem Begin, der in der Vorstaatszeit Anführer der Terrororganisation „Irgun“ gewesen war, erfuhr die Siedlerbewegung bei ihren wahnwitzigen Plänen zur Erweiterung Israels in Richtung auf ein Groß-Israel in biblischen Grenzen eindeutige politische Rückendeckung, die gegenüber der israelischen wie internationalen Öffentlichkeit ebenso zweideutig wie anhaltend verschleiert wurde.
Die Begeisterung, welche die völkerrechtswidrige und auch nach Israels Bestimmungen meist illegale Landnahme der messianisch gestimmten „Emunim“-Anhänger geweckt hatte, nahm in der Öffentlichkeit deutlich ab, als der in ihrem Umfeld entstandene „Jüdische Untergrund“ aufgedeckt wurde, der im Juli 1980 die Sprengstoffangriffe auf zwei der inzwischen gewählten palästinensischen Bürgermeister organisiert und die Sprengung des Felsendoms auf dem Tempelberg vorzubereiten begonnen hatte. Vor Gericht beriefen sich die Angeklagten auf göttliches Recht. Die dem Besuch von Präsident Sadat in Jerusalem folgenden Verhandlungen im amerikanischen Camp David führten zu zwei Vereinbarungen. Gemäß der zweiten wurde im März 1979 der erste Friedensvertrag zwischen einem arabischen Land und Israel abgeschlossen und in der Knesset mit überwältigender Mehrheit gebilligt. Gegen den Widerstand nationalreligiöser Demonstranten wurden im April 1982 die dreitausend Bewohner der im Nordosten des Sinai aufgebauten
Siedlerstadt Jamit von israelischen Soldaten zur Räumung gezwungen. Doch die im ersten Rahmenabkommen von Camp David für einen Zeitraum von fünf Jahren vereinbarte Autonomie für die Palästinenser, die Ministerpräsident Begin widerwillig unterschrieben hatte, wurde nicht umgesetzt. Die in Camp David vereinbarte Anerkennung der „legitimen Rechte“ der Palästinenser blieb aus. Stattdessen machte es der von den Siedlern verlangte Schutz mit der wachsendenden Zahl der Siedlungen nötig, immer mehr Soldaten in den besetzten Gebieten einzusetzen. Deren Gewalt wurde vor allem für Palästinenser in der Nähe neu gegründeter Siedlungen brutal spürbar.

Militärverwaltung in den besetzten Gebieten

Das Instrument, mit dem diese Gewalt organisiert und juristisch begründet wurde, war die Militärverwaltung. Die Juristen und Militärs, die nach der Aufhebung der Militärverwaltung über Israels arabische Staatsbürger im Dezember 1966 ohne Aufgabe geblieben waren, standen nach dem Krieg vom Juni 1967 zur Verfügung, um in den besetzten Gebieten tätig zu werden. Für diese war nur wenige Tage lang die Gültigkeit der Genfer Konvention unstreitig. Über fast vier Jahrzehnte, bis zur Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag über die Rechtswidrigkeit von Sperranlagen außerhalb des Staatsgebietes Israels im Jahre 2004, wurde die Notwendigkeit der Anwendung der Konvention bestritten. Unter dem Dach der aus britischer Zeit stammenden Notstandsgesetze entwickelte sich im Laufe der Jahre ein Regelwerk von mehreren Hundert Notstandsverordnungen, das entgegen einem Beschluss des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahre 1999 bisher weder überprüft, noch eingeschränkt wurde. Zu den Maßnahmen, die auf Grund von Notstandsverordnungen durchgeführt wurden, gehört auch die viele Hundert Palästinenser der besetzten Gebiete treffende Administrativhaft, die ohne Gerichtsverfahren und ohne jede zeitliche Begrenzung erfolgen kann. Der von offiziellen Stellen heftig angegriffene Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen hat im August 2015 die israelische Praxis der Administrativhaft und ihre juristische Grundlage zum wiederholten Mal kritisiert. Artikel 4 des UN-Zivilpakts, auf den sich Israel beruft, sehe Notstand nur als „vorübergehenden Ausnahmezustand“.
Von den Militärgerichten wurden über die Administrativhaft hinaus im Laufe der Jahre und Jahrzehnte Zehntausende von Palästinensern zu Gefängnisstrafen verurteilt. Bald in jeder palästinensischen Familie findet sich zumindest ein Mitglied, das verhaftet oder zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Auch wenn der Oberste Gerichtshof Israels 1999 die Anwendung von Folter verbot, gab die Behandlung der Gefangenen und besonders die Inhaftierung und Verurteilung von Minderjährigen immer wieder Anlass zu Protesten israelischer und internationaler Menschenrechts-Organisationen. Wer den Film “Stone Cold Justice“ des australischen TV-Magazins „Four Corners“ über die Behandlung palästinensischer Kinder und Jugendlicher durch israelische Soldaten oder ähnliche Aufnahmen gesehen hat, den lassen diese Bilder nicht mehr los. Menschenrechtsgruppen äußerten auch ihre Sorge über inhumane Behandlung von palästinensischen Inhaftierten in palästinensischen Gefängnissen. Erschreckend durch seine Darstellung von Hamas-Folter in israelischen Gefängnissen mit palästinensischen Häftlingen ist der deutsch-israelisch-britische Dokumentarfilm des israelischen Regisseur Nadav Schirmann „Der Grüne Prinz“, der zeigen will, dass allen Gräueln zum Trotz Vertrauen zwischen Feinden möglich sein kann.

Friedenskräfte in Israel

Trotz und gerade wegen der inhumanen Folgen der Besatzung gab es neben den aus ideologischen Gründen zu mörderischer Gewalt Bereiten unter den Israelis wie unter den Palästinensern die vielen Stillen und die aktiven Einzelnen und Gruppen, die im Geist der Humanität, der schon den „Brith Shalom“ inspiriert hatte, Hass und Kriegsbereitschaft leid waren und die ihre Regierungen und Autoritäten zu Frieden fördernden Schritten drängten und Brücken über die Kluft von Unrecht und Vorurteilen aufzubauen bereit waren. Ich erinnere mich noch an den aus Persien stammenden Abie Nathan, der als Freiwilliger im Unabhängigkeitskrieg mitgekämpft hatte und schon 1966 mit seinem kleinen Flugzeug „Shalom 1“ unerlaubt und unangemeldet nach Port Said geflogen war, mit der Absicht, Präsident Gamal Abdel Nasser ein Zeichen des Friedens zu überreichen. Der von ihm 1973 geschaffene Radiosender „Stimme des Friedens“ hat von einem Schiff im Mittelmeer aus 20 Jahre lang internationale Musik und Aufrufe zum Frieden gesendet. Der Dokumentarfilm von Eric Fiedler aus dem Jahr 2014 zeigt das Engagement eines Mannes, der nach dem Motto Mahatma Gandhis lebte „Sei die Veränderung, die Du willst“.
Gesellschaftliche Kraft entwickelten die nach dem Oktoberkrieg von 1973 demobilisierten Soldaten, die die vergifteten Früchte des Sieges im Krieg von 1967 zu schlucken hatten, und 1978 die außerparlamentarische Bewegung „Peace now“ (Frieden jetzt) ins Leben riefen. Ihre Anhänger traten für eine historische Aussöhnung mit den Palästinensern ein und versuchten im Gegensatz zu „Gush Emunim“ die Regierung Begin zu drängen, den von den USA vermittelten Friedensprozess fortzuführen. Auf dem Höhepunkt des von Verteidigungsminister Ariel Sharon ausgeweiteten Krieges im Libanon versammelten sich im September 1982 im Zentrum Tel Avivs schwer zählbare zwischen 150.000 und 400.000 Demonstranten, um einen Rückzug der israelischen Truppen zu fordern. Das Massaker libanesischer Falangisten in den von israelischen Truppen umstellten palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila stieß weltweit auf Empörung. Das schreckliche Ereignis bewog Dan Diner, seinen im selben Jahr erschienenen Erwägungen zu möglichen und nötigen bi-nationalen Entwicklungen den Titel zu geben „Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser.“ Seit 1982 erklärten gerade in Phasen erneuter militärischer Eskalation Hunderte mutiger Israelis ihre strikte Opposition und verweigerten unter dem Motto „Yesh Gvul“ (Es gibt eine Grenze) die Ableistung des Reservedienstes in den besetzten Gebieten. Viele von ihnen gingen dafür ins Gefängnis. 2004 gründeten Soldaten, die im Zentrum des Siedlungskonflikts, in Hebron, hatten Dienst leisten müssen, die Organisation „Breaking The Silence“ (Das Schweigen brechen). Ihre erschütternden Zeugnisse über die dehumanisierende Wirkung der fortgesetzten Besatzung erschienen als Buch, zu dessen deutscher Übersetzung ein späterer Botschafter Israels, Avi Primor, das Vorwort schrieb. Hier kommen die jüdischen Israeli zu Wort, die überzeugt sind, dass einmal geschehenes Unrecht keineswegs zur Fortsetzung zwingt, besonders dann nicht, wenn die eigenen Vorfahren Opfer einer der ungeheuerlichsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte waren. Viele von ihnen bewegt die Frage, was es bedeutet, Jude zu sein, wenn die Gegenwart dazu zwingt, selbst als Eroberer und Besatzer zu handeln.

Die Wandlung der PLO

Nicht nur den Friedenskräften, vielen Israelis gab allem Blutvergießen zum Trotz Hoffnung, dass auch in den Reihen der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO), die 1964 gegründet worden war und seit 1969 unter dem Vorsitz des Fatah-Führers Jassir Arafat stand, die Stimmen derer sich mehrten, die eine Aufgabe der immer sinnloser gewordenen Strategie des bewaffneten Volksbefreiungskampfes forderten. Die Zusammenarbeit von Angehörigen der deutschen Roten Armee Fraktion (RAF) mit palästinensischen Terrorgruppen ist ein beschämendes Unterkapitel in der Geschichte der deutsch-israelisch-palästinensischen Beziehungen. Nach der Vertreibung der PLO aus Jordanien und aus Beirut begann im tunesischen Exil ein mühsamer Prozess der Abkehr von einer Politik, die Tausende um ihr Leben gebracht und die Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten eher erschwert als erleichtert hatte. Zwei der mutigsten Verfechter einer Verständigung mit Israel kostete ihr Einsatz das Leben. Said Hamami und Issam Sartawi, deren Bemühungen Uri Avnery in seinem Buch „Mein Freund der Feind“ geschildert hat, wurden von der Abu Nidal-Terrorgruppe ermordet. Treffen von Aktivisten der israelischen Friedenskräfte mit PLO-Vertretern galten dem Ziel, die Bereitschaft der PLO zur Anerkennung Israels zu fördern und Wege zu einer Verständigung auszuloten, auch nachdem Israel solche Kontakte 1985 gesetzlich unter Strafe gestellt hatte. Die PLO erklärte 1988 ihre Bereitschaft zur Anerkennung Israels. Die geheimen Verhandlungen mit Vertretern der Arbeitspartei in Oslo führten ab 1992 zu offiziellen Verhandlungen, die im Zuge des sogenannten Oslo-Prozesses zu den verschiedenen Abkommen führten, deren Ziel führende Umsetzung bis heute ausblieb.
Das einzig wirksame Mittel – bedingte Finanzhilfe
Dass es überhaupt zu offiziellen israelisch-palästinensischen Verhandlungen kommen konnte, verdankte sich der einmaligen Entscheidung von Präsident George W.H. Bush im Jahr 1992, eine Milliardenhilfe für Israel an Einschränkungen der Siedlungspolitik zu binden. Jede amerikanische Administration seit 1947 ist mit dem jüdisch-arabischen Konflikt beschäftigt gewesen. Im Rückblick hat Aaron David Miller, der mehreren Präsidenten diente, im Januar 2003 beklagt, dass die Administrationen „nicht zäh genug gegenüber den Israelis“ gewesen seien und gegenüber den Palästinensern „viel zu nachgiebig“, was Hetze, Gewalt und Terror anging. Millers Buch, auf das sich Reiner Bernstein im Rückblick auf die Jahrzehnte seines Engagements bezieht, trägt den bezeichnenden Titel „The Much Too Promised Land. America’s Elusive Search for Arab-Israeli Peace“. Angesichts der klaren und öffentlich vertretenen Haltung der amerikanischen Regierung wurde die Siedlungspolitik im Jahre 1992 zum ersten Mal zentrales Thema in einem israelischen Wahlkampf. Eine knappe Mehrheit der Wähler wendete sich daraufhin vom Rechtsblock ab und brachte 1992 Jitzchak Rabin ein zweites Mal ins Amt des Ministerpräsidenten. Im September 1993 wurde die von den Verhandlungen in Oslo ausgegangene Prinzipienerklärung in Washington unterzeichnet. Im Oktober desselben Jahres wurde zwischen Jordanien und Israel Frieden geschlossen, ohne dass dem Fortschritte auf der israelisch-palästinensischen Ebene folgten. Im November 1995 wurde Jitzchak Rabin wie zuvor Anwar al-Sadat von einem Fanatiker aus dem eigenen Land ermordet, nachdem die nationalistische Rechte eine zuvor ungekannte Hetzkampagne entfesselt hatte, die von Rechtsgutachten einzelner Rabbiner in unverantwortlicher Weise und ungeahndet unterstützt wurde.
Jahrzehnte Besatzung – Gewalt, Feindbilder, Versöhnungsarbeit
Die gemäß den Oslo-Vereinbarungen erfolgte Übernahme der Palästinensischen Autorität durch die Führung der PLO unter Arafat stellte sich angesichts der offen gebliebenen Grundsatzfragen und der mangelnden Einigkeit zwischen und innerhalb der palästinensischen Fraktionen als zwiespältiger Fortschritt heraus. Die vor dem Einzug der PLO-Führung in Gaza, Jericho und Ramallah aktiven politischen Vertreter der palästinensischen Bevölkerung beklagten sich bald über die mangelnde Vertrautheit mit den Gegebenheiten vor Ort. Als ein Ende der Besatzung unter den auf Rabin folgenden Regierungen immer weiter in die Ferne zu rücken schien, kam es schon vor und auch nach der im Jahr 2000 begonnenen Zweiten Intifada zu der auf und ab peitschenden Welle verheerender palästinensischer Selbstmordattentate im Westjordanland und in Israel selbst. Im Blut der mehrere hundert jüdisch-israelischen Opfer ertrank die Friedenshoffnung Vieler. In Angst, während einer normalen Alltagsbeschäftigung an der Haltestelle, beim Einkauf oder im Café von der Bombe eines Attentäters zerrissen zu werden, wendete sich eine Mehrheit der israelischen Wähler Politikern zu, die ihren Alltag sicherer zu machen versprachen, doch mit ihren militärischen Operationen oder deren Einstellung ohne Vereinbarungen zu weiterer Eskalation beitrugen.
In der veröffentlichten Meinung haben es gemäßigte Stimmen inzwischen immer schwerer. Der liberalen und international beachteten Tageszeitung „Haaretz“ (Das Land), die von Gershom Schocken als Herausgeber über fünf Jahrzehnte geprägt wurde, kommt das Verdienst zu, unerschrocken über die Gefahren und Chancen im Konflikt zu berichten. Inzwischen ist jedoch zur meistgelesenen Tageszeitung das Blatt „Israel Hayom“ (Israel heute) geworden, das täglich und kostenlos in jeden Haushalt verteilt wird. Für diese Zeitung ist die Unterstützung Benjamin Netanyahus redaktionelles Programm. 2007 gegründet, wird sie finanziert und in ihrer Ausrichtung bestimmt von Sheldon Adelson, einem US-amerikanischen Casino-Milliardär, der die rechten Republikaner massiv unterstützt und die Auffassung des früheren Sprechers des Repräsentantenhauses Newt Gingrich teilt, die Palästinenser seien ein erfundenes Volk. Jüdisch-amerikanische Organisationen, die wie die „J Street“ (Jüdische Straße) für eine Zwei-Staaten-Lösung und für Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt eintreten, werden von ihm heftig angegriffen.
Gefördert durch einseitige Berichterstattung verfestigten sich die Feindbilder, je mehr der Schmerz, den die Angehörigen von Gefangenen und Toten beider Seiten erlebten, den Blick auf die Opfer der anderen Seite und die zu Grunde liegenden Ursachen erschwerte. Dass sich Angehörige von im Konflikt Umgekommenen beider Seiten im 1995 gegründeten „Parents Circle-Family Forum“ zusammenfanden und Initiativen zu Versöhnung und Befriedung entwickelten, kann als Wunder angesehen werden oder als ein Zeichen für die Macht des Geistes, aus der Viktor Frankl, der Wiener Psychologe und Philosoph die Kraft gezogen hatte, in Theresienstadt und Auschwitz durchzuhalten, bis die Befreier kamen. Die von ihm nach dem Krieg entwickelte Logotherapie hat auch den Anstoß zur Entwicklung der Wert-Imagination gegeben, neben anderen auch ein Weg zur Traumaheilung.

Die fünfte Runde – Friedenschancen und eskalierende Gewalt

Im März 2002 hatte die Arabische Liga in Abkehr von den drei Nein von Khartum ihre Initiative zum Frieden verabschiedet, die im Juni 2002 von allen 57 Mitgliedern der
Islamischen Konferenz einschließlich des Iran gebilligt wurde. Die Initiative wurde von der Arabischen Liga 2007 noch einmal bekräftigt. Präsident Obama versprach 2009 eine Aufnahme des Friedensplans, der von arabischer Seite 2013 noch einmal modifiziert wurde. Verständigung als reale Möglichkeit zu zeigen und vorzubereiten, bemühten sich inmitten von brutaler Unterdrückung und blutigem Widerstand jüdisch-israelische und arabisch-palästinensische Friedenskräfte gemeinsam. Politiker, die schon an der Vorbereitung der Oslo-Vereinbarungen beteiligt gewesen waren, unter ihnen Yasser Abed Rabbo und Yossi Beilin, legten im Dezember 2003 die nach ihrem Vorstellungsort benannte Genfer Initiative vor. Ihr Text enthält einvernehmlich erarbeitete, detaillierte Vorschläge für die Regelung der Probleme, die im Oslo-Prozess in der nach drei Jahren vorgesehenen Endrunde geklärt werden sollten.
Dass ein historischer Kompromiss allem Leid und allen Schwierigkeiten zum Trotz von breiten Schichten der Bevölkerung auf beiden Seiten der grünen Linie noch immer unterstützt werde, wollte der bekannte Hochschullehrer und politische Kopf im Hintergrund der Ersten Intifada Sari Nusseibeh zeigen. Gemeinsam mit Ami Yaalon, dem vormaligen Chef des Inlandsgeheimdienstes Israels, initiierte er die Kampagne „Stimme des Volkes“. Bürger beider Seiten wurden im Jahre 2003 gebeten, eine den Zielen der Genfer Initiative ähnliche, allerdings nur eine Seite umfassende Erklärung zu unterschreiben, in der ein Ende der Besatzung, ein geteiltes Jerusalem und eine Rückkehr der Flüchtlinge ausschließlich in das demilitarisierte palästinensische Staatsgebiet gefordert wurde. Trotz der für die palästinensischen Bewohner ungewöhnlichen Aktionsform unterschrieben 125.000 Palästinenser und 280.000 Israelis. Das besondere Verdienst der Initiative von Nusseibeh liegt darin, dass zum ersten Mal in der elend langen Geschichte der palästinensischen Flüchtlinge öffentlich um Zustimmung für eine Lösung geworben wurde, die das von der UN bestätigte grundsätzliche Recht auf Rückkehr oder Entschädigung auf die inzwischen entstandene Situation bezieht und auch in dieser Kernfrage des Konflikts einen historischen Kompromiss anbot. Sari Nusseibeh hat in seiner Darstellung der Geschichte Palästinas unter dem Titel „Es war einmal ein Land“ die Erwartungen an seine israelischen Gesprächspartner so wiedergegeben: „Es spielt keine Rolle, ob sie vorsätzlich die palästinensische Flüchtlingstragödie verursacht haben. Die Tragödie ist da, auch wenn sie nur indirekt eine Folge ihres Vorgehens ist. Unserem traditionellen Verständnis nach müssen sie dazu stehen. Sie müssen kommen und sich entschuldigen. Nur auf diese Weise werden die Palästinenser spüren, dass ihre Würde anerkannt wird und in der Lage sein zu vergeben.“
Doch die Erwartungen, die Nusseibeh stellvertretend für viele seiner Landsleute formuliert hatte, blieben unerfüllt. Die rechten Parteien lehnten auch die Friedensinitiative der Arabischen Liga kategorisch ab und setzten den 2002 von der Regierung Sharon begonnenen Bau von Mauer und Zaun fort, der darauf abzielte, eine Hälfte des Westjordanlandes in israelisches Staatsgebiet zu integrieren. Die für die Palästinenser bleibenden Teile des Rests hatte Sharon selbst als „Bantustans“ bezeichnet. Inzwischen wird der Ausbau von Mauer und Zaun allen internationalen Einwänden und auch unter Umgehung von Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes Israels so forciert weiterbetrieben, das der Eindruck entstehen kann, Israel bereite für den Fall der Fälle einen einseitigen Rückzug aus dem palästinensischen Rest des besetzten Westjordanlandes vor, wie ihn Moshe Dajan schon 1981 vorgeschlagen hatte.
Die Lebensbedingungen der Palästinenser wurden immer schwerer erträglich. Die anhaltende Verweigerung eines Rückzugs aus den besetzten Gebieten seitens der israelischen Regierungen wurde der von der Fatah getragenen Regierung angelastet. Vor diesem Hintergrund erreichte bei den dem Tod von Yassir Arafat folgenden Wahlen zur palästinensischen Legislativversammlung im Jahre 2006 die 1987 gegründete Hamas, deren islamistische Vorgängerorganisation von Israel als Konkurrenz zur Fatah zunächst gefördert worden war, die absolute Mehrheit. Israel, dem sich die westlichen Regierungen anschlossen, hatte die Hamas 1988 zur Terrororganisation erklärt und lehnte Verhandlungen mit einer Regierung unter Beteiligung der Hamas kategorisch ab. Die Hamas gab 2004 ihre Strategie der Selbstmordattentate auf. Sie übernahm im Gazastreifen, aus dem die Regierung Sharon 2005 Siedler und Soldaten ohne vorherige Vereinbarung zurückgezogen hatte, 2007 die Macht. Es folgte der verheerende Wechsel von Raketenangriffen und israelischen Militäroperationen, der inzwischen zu einer Situation geführt hat, die im Kern dem Zermürbungskrieg an den Ufern des Suez-Kanals und seinen gelegentlichen Pausen nach dem Krieg von 1973 gleicht.

Zeit der Entscheidung

Nachdem in jedem der inzwischen fast fünf vergangenen Jahrzehnte seit der Besetzung im Juni 1967 die Chancen zu Verständigung und Frieden verpasst worden sind, zeigt sich, dass auch Kriegsstrategien Grenzen haben. Gegenüber dem Libanon und dem Gazastreifen hat Israels Militärmacht nur noch eingeschränkte Optionen, will es nicht zu einer Strategie der totalen Vernichtung greifen. Das Gleiche gilt für terroristische Aktionen und Raketenüberfälle. Die Maßlosigkeit ihrer Gewalt führt zu maßlosen Luftangriffen, unter denen vor allem die Zivilbevölkerung leidet. Präsident Abbas hat sich anders als sein Vorgänger Jassir Arafat eindeutig für einen unbewaffneten Kampf um palästinensische Unabhängigkeit entschieden. Auch in der Hamas geht der Wandlungsprozess weiter. Sie hat erklärt, sich an den im Sommer 2014 ausgehandelten unbefristeten Waffenstillstand strikt zu halten. Doch spürbare Erleichterungen für die Menschen im Gazastreifen wie im Westjordanland hat Israels Regierung bisher nicht folgen lassen. Die Situation ist angespannt wie selten zuvor. Seit 2008 wird von der Palästinensischen Autorität eine Aufkündigung des Oslo-Prozesses erwogen, um Druck auf Israel und die internationale Staatengemeinschaft auszuüben.
Werden die Mitglieder des Nahost-Quartetts, US-Amerika, Russland, die Europäische Union und die UNO, angesichts der Zehntausenden, die aus Syrien und vor dem Wüten der IS-Kämpfer flüchten, sich auf eine „road map“, eine Wegekarte verständigen können und wollen, die weiter gefasst als bisher zu einem umfassenden Frieden in der Region zu führen vermag? Alle Beteiligten sind auf Finanzgeber von außen angewiesen, ob für Waffen oder für Maßnahmen, die den Menschen dienen. Kann es gelingen, die direkt und indirekt beteiligten Staaten in einen Entwicklungsplan einzubeziehen, der den Staaten und den Völkern und Volksgruppen gleichermaßen dient?
Die offenen Fragen, die Widersprüche in der Haltung der großen Mächte und der unmittelbar am Konflikt Beteiligten haben sich auch in der Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen wiedergespiegelt. Umgekehrt haben die wirtschaftlichen und militärischen Interessen und die politische Haltung der deutschen Regierungen auf den Prozess in der Region eingewirkt. Es sieht so aus, als ob der Einsatz für
Frieden auch abhängig ist vom Verständnis der Folgerungen, die aus der ungeheuren Katastrophe der Vernichtung des Judentums in Europa abzuleiten sind. In dieser Hinsicht wollen wir die bilateralen Beziehungen in einigen wichtigen Bereichen betrachten, bevor wir uns abschließend Grundfragen zuwenden.

Erfolg und Entfremdung

50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen wurde die Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen auf deutscher Seite als großer Erfolg gefeiert. Tatsächlich haben sich Kontakte und Zusammenarbeit in einem unvorhersehbaren Ausmaß erweitert, differenziert und intensiviert. Im Rückblick wird allerdings eine tiefgreifende Ambivalenz erkennbar, die darin liegt, dass die Implikationen der friedenspolitischen Herausforderung, vor die Israel mit dem Ausgang des Krieges von 1967 gestellt wurde, weithin unbeachtet geblieben sind, hintangestellt, übersehen oder verkannt wurden. Die deutschen Bundesregierungen haben die 1952 eingeleitete Politik der bedingungslosen Unterstützung Israels nach dem Juni-Krieg 1967 so fortgesetzt, als habe es keine Besatzung vom letzten Rest des historischen Palästina gegeben, in dem gemäß dem Teilungsplan der Vereinten Nationen vom November 1947 auch ein Staat Palästina entstehen sollte. Mit Ausnahme der Entscheidung von Bundeskanzler Helmut Schmidt, nach Israel erst zu reisen, wenn Ministerpräsident Menachem Begin beginne, die in Camp David eingegangenen Verpflichtungen gegenüber den Palästinensern zu erfüllen, haben die deutschen Regierungen bei Initiativen zur Überwindung des israelisch-arabischen Konflikts Zurückhaltung geübt und sich an der US-amerikanischen Haltung orientiert. Der erste und zugleich letzte Außenminister, der ein eigenes Ideenpapier zum Fortgang des Friedensprozesses vorlegte, war im Jahr 2002 Joschka Fischer, der zwanzig Jahre zuvor in Algier an einer Solidaritätskonferenz für den bewaffneten Befreiungskampf des palästinensischen Volkes teilgenommen hatte. Israels Wünsche auf wirtschaftlichem und auch auf militärischem Gebiet wurden erfüllt. Die Haltung zu Rüstungsanfragen hat Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 mit einem seiner berühmten Basta-Sätze zutreffend zusammengefasst: „Die Israelis bekommen, was sie brauchen und wenn sie es brauchen.“
Als 1996 die Voraussetzungen für Entwicklungshilfe an Israel nicht länger gegeben waren, wurde zwischen beiden Regierungen die Gründung des Nahostregionalfonds vereinbart. Aus dessen Mitteln sollten Klein- und Mittelstandsbetriebe und Infrastrukturprojekte gefördert werden. Unter den Bedingungen fortgesetzter Besatzung untergruben die nun überwiegend doch von Großunternehmen durchgeführten Projekte die Möglichkeit zu palästinensischer Selbstbestimmung. Die Pläne für den Bau von Technologieparks über die grüne Linie hinweg mussten im Laufe der Zweiten Intifada aufgegeben werden. Wie die Europäische Union im Ganzen so taten sich auch die deutschen Regierungen schwer mit dem Erlass von klaren Bestimmungen zur Kennzeichnung von Produkten aus in den besetzten Gebieten errichteten israelischen Siedlungen und Industrieparks.
Auch in den wirtschaftlichen Beziehungen hat es nach 1967 keinen Moment des Innehaltens gegeben. Nach den Vereinigten Staaten und China ist Deutschland zum drittwichtigsten Handelspartner Israels geworden. Die Schwerpunkte haben sich im Laufe der Jahre verschoben, von der Landwirtschaft und Infrastrukturentwicklung zu Pharmazeutik und Medizintechnik, zu Militärtechnologie und IT-Industrie. Mehr als 6000 deutsche Firmen sind geschäftlich engagiert. An mehr als 100 deutschen
Firmen sind israelische Investoren beteiligt. In den vergangenen Jahren wirkten deutsche Firmen oder Tochtergesellschaften etwa durch Abbau in Steinbrüchen des Westjordanlandes und der Lieferung des Materials nach Israel aktiv mit an der völkerrechtswidrigen Ausbeutung der dortigen einheimischen Ressourcen.
Im Rahmen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, die bereits 1959 mit dem Besuch einer Delegation der Max-Planck-Gesellschaft unter der Leitung des Atomphysikers Otto Hahn am Weizmann-Institut in Rehovot begann, wurden mehr als 30 Forschungslehrstühle errichtet, mehr als 2000 Doktoranden gefördert. In die 1987 gegründete deutsch-israelische Stiftung für wissenschaftliche Forschung bringt jede Seite jährlich 75 Millionen Euro ein. Wieweit die Forschung zu einer Festigung des gegenwärtigen Status quo beiträgt, wieweit alternative Entwicklungen gefördert werden, ist schwer zu quantifizieren.
Einmalig in Europa dürfte sein, dass eine ausländische Partei eine in Israel heftig umstrittene und für die Beteiligten am israelisch-palästinensischen Konflikt höchst bedeutungsvolle Forderung zum Teil ihres politischen Selbstverständnisses machte. Die Anerkennung Israels als „jüdischer Staat in sicheren Grenzen“ wurde im Mai 2008 ins Grundsatzprogramm der CDU aufgenommen und 2009 auch Teil des Koalitionsvertrages mit der SPD. Im März 2008 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset bereits die Verantwortung für die Sicherheit Israels zum Teil deutscher „Staatsräson“ erklärt. Der Begriff, den Rudolf Dreßler, SPD-Politiker und Botschafter in Israel, 2005 in die politische Diskussion eingeführt hatte, entstammt vordemokratischer Tradition, sein heutiger Gebrauch ist schon deshalb fragwürdig. Inhaltlich höchst problematisch erscheint die Aussage der Kanzlerin vielen, weil sie sich Israels Sicherheit unabhängig von dessen Grenzen verpflichtete, ohne darauf Bezug zu nehmen, dass für deutsche Staatsbürger und Politiker das deutsche Grundgesetz in Artikel 25 die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes zum Bestandteil des Bundesrechtes bestimmt hat, die den Gesetzen vorgehen und Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes erzeugen. Im Mai 2012 rückte Bundespräsident Joachim Gauck von Angela Merkels Inanspruchnahme der Staatsräson ab und sprach sich für „dauerhaften Frieden“ aus, der nur möglich sei, wenn „Israel und ein unabhängiger, lebensfähiger palästinensischer Staat Seite an Seite in Sicherheit und in anerkannten Grenzen“ leben können.

Arabische Staatsbürger im Blickfeld?

Die Frage eines all seinen Bürgern verpflichteten oder eines explizit „jüdischen Staates“ berührt insbesondere die arabisch-palästinensischen Staatsbürger des Landes. Sie sind im fünften Jahrzehnt der Beziehungen bei Austauschprogrammen zwischen Jugendlichen und Studenten immer noch unterrepräsentiert. Im Jugendaustausch ist die Einbeziehung arabischer Israelis als Aufgabe und Möglichkeit zur Friedensförderung inzwischen stärker erkannt als bei den Städtepartnerschaften. Vor allem trilaterale Schulpartnerschaften zwischen deutschen Schulen mit solchen in jüdischen und arabischen Schulen, die in unterschiedlichen Orten desselben Landkreises liegen, haben zu tiefgehenden Begegnungen geführt, die auch für die wachsende Zahl muslimischer Schüler an den deutschen Schulen von großer Bedeutung sind. Dabei erleben Schüler unmittelbar, dass der jeweils andere anders ist als vorgestellt, dass es „den“ Islam, „das“ Judentum gar nicht gibt und dass es bei der Suche nach dem persönlichen Weg viele Ähnlichkeiten gibt. Auch unter den knapp 100 Partnerschaften zwischen
Orten und Kreisen beider Länder gibt es Vorreiter. Der Landkreis Esslingen beispielsweise nahm 1975 Beziehungen zur Stadt Givatayim auf, denen im Frühjahr 2000 Kontakte zur christlich-arabischen Ortschaft Rama folgten. Aus dem für den Schüleraustausch seit 2006 entwickelten Trialog-Programm erwuchs 2011 in Stuttgart das „Forum Deutschland-Israel-Palästina“. Das Forum lädt ausdrücklich Menschen ein, die im israelisch-palästinensischen Konflikt nicht Partei sein wollen, sondern helfen wollen, Brücken zu bauen zwischen den Angehörigen beider Völker und Beiträge leisten möchten zu ihrem künftigen Neben- und Miteinander in zwei Staaten.
Fortgesetzte Polarisierung in der zweiten Generation
Die Polarisierung, die mit dem Krieg von 1967 in der Studentenbewegung entstand, wirkt immer noch fort. Da die Vertreter einseitig pro-palästinensischer und einseitig pro-israelischer Positionen und Gruppen sich auch in den neu entstandenen Parteien der GRÜNEN und der LINKEN engagierten, führen nahöstliche Themen dort immer noch zu heftigen, manchmal schwer zu überwindenden Kontroversen. Den schwierigen Weg von Solidarität mit Befreiungskämpfern zu Solidarität mit dem Leben zeichnet der in Südamerika spielende Film „Der deutsche Freund“ nach, der mit einem versöhnlichen Ausblick endet. Auf die Frage der jüdischen Freundin, Tochter von Überlebenden der Katastrophe, antwortet im Schlussdialog der Freund, Sohn von ausgewanderten Nazi-Eltern, nach schweren traumatischen Jahren schließlich: „Ich habe alle meine Kriege beendet.“ Womöglich wird erst die den Kriegs- und Nachkriegskindern folgende Generation die oft unbewusste Befangenheit im Schatten der ungeheuren Katastrophe der Judenvernichtung auflösen können und stärker integrierte Perspektiven entwickeln. Tatsächlich findet sich etwa im Jugendforum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft heute eine den Rückblickenden erstaunende Meinungsvielfalt. Auch auf der anderen Seite sind neue Initiativen entstanden, deren Beschäftigung mit der arabischen Welt die Entwicklungen in Israel einbezieht. Der 2005 gegründete „Al-Sharg“-Blog beispielsweise, der von der Deutschen Welle 2007 als bester deutschsprachiger Blog ausgezeichnet wurde, bezieht Reisen ins Innere Israels wie selbstverständlich in seine Angebote ein.

Gespaltene Haltung bei Christen und Kirchen

Die Mehrzahl der allgemeinen Studienreisen streift die Wirklichkeit der arabischen Staatsbürger Israels weiterhin nur am Rande und begegnet der verzweifelten Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten bestenfalls bei Besuchen christlicher Stätten und kirchlicher Repräsentanten in Jerusalem, Bethlehem und Beit Jala. Wie gespalten und im Grunde ungeklärt die Haltung der Kirchen im Konflikt ist, zeigt sich auch daran, dass biblische Reisegruppen fröhlich in die von der neozionistischen Bewegung zur Mutter verklärten jüdisch-nationalistische Siedlung Ofra zu Vortragsveranstaltungen reisen, während im Rahmen des Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel (IAPPI) deutsche Freiwillige gemeinsam mit jüdisch-israelischen Friedensaktivistinnen von „Machsom Watch“ (Beobachtung an Kontrollpunkten) an den für palästinensische Zivilisten zum Albtraum gewordenen Checkpoints durch ihre Präsenz zu Deeskalation und Menschlichkeit beizutragen suchen. Das vom Weltrat der Kirchen beschlossene internationale Programm wird in Deutschland von „Pax Christi“ und dem Berliner Missionswerk getragen und von den evangelischen und katholischen Entwicklungshilfeverbänden unterstützt. Ein aktives
Netzwerk der in der Region tätig gewesenen Beobachter gibt deren Erfahrungen und Einsichten weiter. Unberührt und ungerührt davon werben demgegenüber evangelikale Organisationen für die Unterstützung der neozionistischen Gruppen, welche die Wiederherstellung des biblischen Israel ohne Rücksicht auf die Palästinenser berechtigt finden. Sie sind ideologisch und praktisch eng verbunden mit in den Vereinigten Staaten einflussreichen christlichen fundamentalistischen Strömungen, deren messianische Erwartungen mit der vom rechten Lager der Republikaner verfolgten Mission von „God‘s own country“, Gottes eigenem Land, zusammenkommen.
Auch im theologischen Diskurs steht die Aufgabe an, die unter dem Eindruck der Katastrophe der Judenvernichtung eingeleitete Hochschätzung der jüdisch-biblischen Tradition so zu differenzieren, dass traditionelle Lehrformeln davor geschützt sind, auf den nahöstlichen Konflikt fundamentalistisch angewendet zu werden. Im örtlichen christlich-jüdischen Dialog weitet sich in den letzten Jahren das Spektrum durch die wachsende Zahl von liberalen jüdischen Gemeinden. Im Blick auf die Vielgestaltigkeit jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora hat Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste jüngst einen bemerkenswerten Schritt unternommen. ASF ist seit 2014 Träger des Programms „Germany close up“, das seit 2007 jedes Jahr 250 junge jüdische Menschen aus Nordamerika nach Berlin einlädt, und arbeitet dabei weiter mit dem früheren Träger, der „Stiftung Neue Synagoge“, zusammen. In die kaum noch übersehbare Fülle von Austausch- und Studienkontakten fließen auch die Erfahrungen aus den in der deutschen Einwanderungsgesellschaft immer zahlreicher werdenden interreligiösen Begegnungen ein, die umgekehrt bei der Differenzierung und Weiterentwicklung der Austauschprogramme helfen. Dabei bleibt frappierend, dass auf israelischer Seite religiöse Juden praktisch nicht beteiligt sind. Diese Gruppe teilt auch bei weitem nicht die Hochschätzung Deutschlands und der deutschen Politik, die sich bei allen anderen Gruppen der israelischen Gesellschaft in den letzten 25 Jahren entwickelt hat.

Schweigen und neues Verstehen

Aus dem Alltag der zahlreichen Begegnungen wird häufig berichtet, dass es auf beiden Seiten große Zufriedenheit gebe, auch Freundschaften entstanden seien. Doch rund um das Thema Besatzung sei es schwierig, wenn nicht unmöglich, Fragen zu stellen und ins Gespräch zu kommen. Selbst langjährig mit Israelis in Kontakt stehende Deutsche haben es häufig schwer, die heiklen Fragen ins Gespräch zu bringen, weil sie bei an Israels Sicherheit im engen Sinne orientierten Partnern mit heftigen Reaktionen zu rechnen haben, die zu Kontaktabbruch führen könnten. Wahrscheinlich bin ich nicht der Einzige, der den Vorschlag gehört hat: „Lass uns Freunde bleiben. Wir brauchen über Politik doch einfach nicht zu sprechen.“ Haben solche Begegnungen, in denen die zentralen Fragen ausgeblendet bleiben müssen, mit dem Alter zu tun, mit den unterschiedlichen Lebenswelten oder mit dem je spezifischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Lebensgeschichte?
In den bei uns wie in der nahöstlichen Region sich ausweitenden Begegnungen zwischen unterschiedlichen nationalen, religiösen und politischen Gruppen ist ein Verständigungsmodell wirkungsvoll geworden, das von der Körber-Stiftung und dem Schulbuchinstitut in Braunschweig entscheidend gefördert wurde. Dan Bar-On, der verstorbene jüdisch-israelische Mitgründer von PRIME (Peace Research Institute Middle East), wurde als Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer in Haifa geboren, war lange Jahre Kibbuznik und wendete sich als

Psychologe den traumatischen Folgen

bei den Kindern von Überlebenden der Shoah zu, um dann den Nachwirkungen bei Kindern von Tätern nachzugehen. Aus der Arbeit im 1992 initiierten Gesprächskreis mit Kindern von Tätern und Ermordeten entstand sein Ansatz, durch das Erzählen der eigenen Geschichte und das Hören der Geschichte des Anderen Türen zu Vertrauen zu öffnen. Gemeinsam mit dem palästinensischen Historiker Sami Adwan übertrug Bar-On diesen Ansatz auf die Geschichten der beiden im Konflikt stehenden Gemeinschaften in Israel und Palästina. Gemeinsam mit Lehrern beider Gruppen wurde von PRIME das einzigartige Geschichtsbuch entwickelt: „Das historische Narrativ des Anderen kennenlernen“, dessen Gebrauch an Schulen Israels und der besetzten Gebiete bis heute auf Widerstand stößt. Von 2006 bis kurz vor seinem Tod leitete Bar-On das Dialog-Training für Mediatoren aus unterschiedlichen Konfliktregionen. Unter Aufnahme des Modells von Bar-On und anderer Methoden zur Überwindung von Trauma und Konflikt, wie sie von Marshall Rosenberg, Arnold Mindell und anderen entwickelt wurden, haben in den letzten Jahren ursprünglich auf Erinnerung ausgerichtete Einrichtungen ihr Verständnis von Gedenkkultur modifiziert und jüdisch-israelische und palästinensische Teilnehmer in intensiven Gesprächsgruppen einander näher gebracht.
Zu den Einrichtungen, die solche Begegnungen durchführen, gehört auch das „Centre for Humanistic Education“ des Kibbuz Lohamei Hagetaot (Ghettokämpfer), der 1949 von Überlebenden des Aufstandes im Warschauer Getto gegründet wurde. Eine deutsche Freiwillige, die im Centrum mitarbeitete, schildert als eine ihrer bewegendsten Erfahrungen, dass sie in einem Gespräch von einem jungen Araber aus Akko hörte, er habe vor dem Training im Center die Juden gehasst und nichts mit ihnen zu tun haben wollen. „Ich war ein Radikaler“, sagte er. Nun, nach einem langen inneren Lernprozess habe er viel mehr Verständnis für die Juden. Die Palästinenser bräuchten einen Martin Luther King, damit sie gewaltlosen Widerstand lernten. Dem ließe sich das Zeugnis des jüdischen Siedlers an die Seite stellen, der von einer arabischen Familie im Nachbarort eingeladen zum ersten Mal in seinem Leben ein arabisches Haus betrat, um betroffenen festzustellen, dass er dort auf Menschen traf, auf eine Familie wie die seine.
Da Neigung zu und Befürwortung von Gewalt in aller Regel tiefliegender Unsicherheit entstammt, vollzieht sich ihre Verwandlung –wie vom arabischen Jugendlichen beschrieben– zumeist in einem inneren Lernprozess, der häufig bis in die eigene Kindheit führt. Arno Gruen hat das in der Arbeit mit Insassen britischer Gefängnisse erlebt und beschrieben. Der Zusammenhang von Kindheitstraumata und Gewaltbereitschaft ist das Thema, das sich durch die erfolgreichen Bücher von Alice Miller zieht. Wenige wussten, dass die berühmte Kindheitsforscherin als jüdische Jugendliche unter traumatisierenden Bedingungen sich, ihre Schwester und ihre Mutter aus dem Warschauer Ghetto rettete, bevor sie in die Schweiz ging, um bis zu ihrem tragischen Lebensende ihre wahre Herkunft zu verschweigen und zu verbergen.
Die nach der Bekanntschaft mit Dan Bar-On von Brigitta Mahr gegründete deutsche Initiative „Friendship Across Borders“ (FAB) hat ein Programm für sogenannte Friedensträger entwickelt, das die Bereitschaft zu Dialog und Toleranz durch die manchmal nötigen persönlichen Transformationsprozesse zu entwickeln und zu stärken sucht. Bei einem Seminar für deutsche Beteiligte und Interessierte, das FAB mit dem Religionswissenschaftler Björn Krondorfer im Jahr 2009 durchführte, öffneten sich uns Teilnehmern Wege, aus unbewusster Übernahme von Schuld der
Soldatenväter entstandene Gefühle übermäßiger Verantwortlichkeit abzubauen. Die Macht des gewagten Gesprächs ist jedoch auch den Hardlinern beider Seiten bewusst. Die immer vollständiger werdende Abriegelung der Gebiete soll auch möglichst jeden Kontakt zwischen den Menschen unterbinden, selbst oder gerade den friedlichen. Palästinensische Aktivisten gewaltloser Initiativen sind unter Druck gesetzt, auch zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Auf palästinensischer Seite wurden im Zuge der so genannten Antinormalisierungskampagne israelisch-palästinensische Treffen gestört und verhindert.

Stiftungen und Friedensforscher auf schwierigem Terrain

Die auf die Region bezogenen Analysen und friedenspolitischen Impulse der sieben deutschen Friedensforschungsinstitute, der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ sowie der Stiftungen der politischen Parteien und der Goethe-Institute sind unübersehbar. Der besondere Wert der zuletzt Genannten liegt darin, dass sie die Situation vor Ort wahrnehmen und in Zusammenarbeit mit den so oder so Betroffenen Projekte planen und durchführen. Die Projekte aller Stiftungen der Parteien kommen sich mit der Unterstützung von sozialen und pädagogischen Initiativen und dem Eintreten für Menschenrechte inhaltlich sehr nahe, auch wenn sie unterschiedliche Zielgruppen ansprechen. Die Vorschläge und aktuellen Mahnungen der Friedensforscher und Stiftungsmitarbeiter haben in der offiziellen deutschen Politik allerdings kaum Berücksichtigung gefunden. Im November 2006 veröffentlichte ein Kreis von deutschen Politikwissenschaftlern, Soziologen und Friedensforschern das „Manifest der 25“ unter dem Titel „Freundschaft und Kritik. Warum die ’besonderen Beziehungen’ zwischen Deutschland und Israel überdacht werden müssen“, was erregte Auseinandersetzungen auslöste und den Vorwurf des Antisemitismus provozierte. Im August 2014 forderten 90 Nahost-Experten in einer gemeinsamen Erklärung erneut einen Kurswechsel der deutschen Politik gegenüber Israel und Palästina. Ob die deutsch-israelische Parlamentariergruppe, mit mehr als 120 Mitgliedern die größte auf ein anderes Land bezogene Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag, je ein Hearing veranstaltet hat, um die Vertreter der deutschen Stiftungen und Friedensforschungsinstitute zur Situation und politischen Sicherung der Zukunft Israels zu hören?
Für die friedenspolitisch engagierten Kräfte in der Region sind die Parteienstiftungen eine wichtige Unterstützung und nehmen für engagierte Einzelne in bestimmten Situationen auch Schutzfunktion wahr. Seitdem die letzte Regierung Netanyahu erklärt hat, Maßnahmen zur Kontrolle und Einschränkung der Arbeit von im Land tätigen Nichtregierungsorganisationen seien nötig, und extremistische Gruppen ausländische Repräsentanten einzuschüchtern, sind die Stiftungen selbst auf Schutz angewiesen. Es ist nicht öffentlich geworden, ob dieser Punkt in den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen je angesprochen worden ist. So stehen die Verantwortlichen und Mitarbeiterinnen der Stiftungen und Friedensforschungsinstitute gleich dreifach unter Druck, durch die fehlende Aufnahme ihrer Impulse in die offizielle Politik, durch die Drohungen durch israelische Regierungsvertreter und rechtsextreme Aktionsgruppen und durch die alltägliche belastende Situation vor Ort. Der Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah, Jörg Knocha, hat im Juli 2014, als er seinen Posten aufgab, eine bewegende Erklärung abgegeben, aus der wenige Sätze zitiert seien:
„Die Unverhältnismäßigkeit in diesem Konflikt lässt jeden Versuch der Neutralität, manchmal auch der eigenen Objektivität, zu einer Herkulesaufgabe werden. Das trifft vor allem auf den Gazastreifen zu. Von der unerträglichen Situation in grenznahen israelischen Orten wie Sderot und der psychischen Belastung gerade für Kinder konnte ich mich mehrmals selbst überzeugen. Wie viel größer muss aber das Leid sein, wenn man, wie in Gaza, weder die Möglichkeit hat zu fliehen, noch über ein Frühwarnsystem, Schutzräume oder gar ein hochentwickeltes Raketenabwehrsystem verfügt? Die an eine kollektive Bestrafung erinnernden israelischen Militäraktionen nach dem Mord an drei Jugendlichen im Westjordanland oder derzeit in Gaza haben bei mir zur Frage geführt, ob und wie ich mein unkompliziertes Leben als Ausländer in Ramallah mit der Gesamtsituation vereinbaren kann. Meine Antwort darauf ist, dass ich dazu immer weniger in der Lage bin.“
Der Platz reicht nicht, um auf die beeindruckenden Projekte der Stiftungen näher einzugehen. Nur eines sei hier erwähnt, das zu zeigen vermag, wie die Manchen aussichtslos erscheinende Situation in Israel und Palästina Andere dazu bringt, sich noch entschlossener vorzuwagen und die für Frieden und eine Zukunft beider Völker wichtigen Perspektiven in die öffentliche Diskussion zu bringen. Im Dezember 2013 veranstalteten Gruppen der israelischen Friedensbewegung mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung die in der Geschichte Israels erste Internationale Konferenz für einen Atomwaffenfreien Nahen Osten. Die zur Beendigung des zweiten Golfkrieges 1991 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Resolution 687 hatte die Notwendigkeit bekräftigt „auf das Ziel der Schaffung einer Kernwaffenfreien Zone in der Nahost-Region hinzuarbeiten“. Seither haben sich die Vereinten Nationen und die Internationale Atomenergie-Organisation mehrfach mit dieser Frage beschäftigt, gab es offizielle und auch geheime Treffen zwischen Vertretern Israels und des Iran. Die Vertagung der für 2012 in Helsinki geplanten Konferenz der Signatarstaaten des Vertrags über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen gab den israelischen Initiatoren den Anlass, Experten und Engagierte, unter ihnen den Bürgermeister von Hiroshima, nach Israel einzuladen. Die Konferenz tagte zwei Tage lang in Haifa, am dritten Tag in Ramallah. Der Appell der Konferenz zur baldigen Fortsetzung der internationalen Verhandlungen hat in deutschen Medien ebenso wenig Beachtung gefunden wie die auf der Konferenz aufgeworfene und ungeklärt gebliebene Frage, wer in Israel die Lagerung und den Verbleib radioaktiven Materials und mögliche gesundheitliche Auswirkungen eigentlich überwache.

Abnehmende Sympathie als Ausdruck von Antisemitismus?

Mit diesen und vielen anderen Manifestationen politischen und menschlichen Engagements erreichten die offiziellen deutsch-israelischen Beziehungen ihren 50. Jahrestag. Die zahlenmäßigen Erfolge und die offizielle Freundschaft stehen in drastischem Kontrast zur Entwicklung des Meinungsbildes in der deutschen Öffentlichkeit. Die Einstellung der Israelis gegenüber Deutschland hat sich nahezu vollständig umgekehrt. Während vor 50 Jahren etwa 80 % der Israelis Beziehungen zu Deutschland ablehnend oder skeptisch gegenüberstanden, sind es heute fast ebenso viele, die Deutschland und seine Beziehungen mit Israel positiv beurteilen. Demgegenüber hat, von Bedrohungssituationen wie im Jom-Kippur-Krieg 1973 oder im zweiten Golfkrieg von 1991 abgesehen, die positive Einschätzung Israels in der deutschen Bevölkerung stetig abgenommen, insbesondere in der jungen Generation. Mehr als die Hälfte steht Israel kritisch gegenüber, bald zwei Drittel beurteilen die Politik der Regierungen Israels negativ. Noch höher liegen die Zahlen, wenn nach
der Haltung Israels im israelisch-arabischen Konflikt gefragt wird. Im Jahr 2012 meinten 70 % der befragten Deutschen, Israel verfolge seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Völker.
Diese Umfrageergebnisse haben die offiziellen Repräsentanten im deutsch-israelischen Beziehungsgeflecht bewogen, vor einem Wiederaufleben von Antisemitismus zu warnen. Eine 2012 vorgestellte Studie der „Projektgruppe Friedensforschung“ an der Universität Konstanz unter der Leitung des Psychologen und Friedensforschers Wilhelm Kempf hat allerdings gezeigt, dass Kritik an Israel, sofern sie nicht extrem einseitig ist, von Personen vertreten wird, die überdurchschnittlich gute Kenntnisse von der Region haben, besonders stark für Menschenrechte engagiert sind und weniger als andere Gruppen zu antisemitischen Einstellungen neigen. Bundespräsident Gauck hat anlässlich des Besuches des israelischen Präsidenten Rivlin im Jubiläumsjahr die vom Israel-Experten der Bertelsmann-Stiftung Stephan Vopel geäußerte Auffassung bekräftigt, es müssten noch mehr Gelegenheiten für direkte Begegnungen geschaffen werden. Diese Forderung übersieht, dass durch die direkte Wahrnehmung der bedrückenden Situation vor Ort und das Erleben radikaler Äußerungen von israelischen Reiseführern und Sprechern neozionistischer Gruppen die Bedenken auslösende Wahrnehmung der israelischen Besatzungspolitik gerade verstärkt wird. Ohne Veränderungen in Israels Politik wird ein Mehr an Begegnungen ihre scheinbar paradoxe Wirkung nicht zu ändern vermögen.
Der entscheidende Grund für die zunehmende Entfremdung liegt wohl in der unterschiedlichen Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung der beiden Länder. Noch jedenfalls stehen in Deutschland große Teile der Bevölkerung für eine nicht-nationalistische, auf Verständigung und Umweltverantwortung zielende Orientierung, die gerade aus der Erschütterung über die ungeheuerliche Katastrophe der Judenvernichtung abgeleitet wird. Andere Kreise, vor allem in öffentlicher Funktion Tätige ziehen demgegenüber, unterstützt, zuweilen gedrängt von offiziellen Kreisen Israels und bestimmter Gruppen der amerikanischen Judenheit, aus der Katastrophe den Schluss, Deutschland müsse unbedingt die Sicherheitspolitik Israels mittragen.
Angesichts der problematischen Folgen, die Israels Sicherheitspolitik in den letzten Jahrzehnten bewirkt hat, wird allerdings für eher kleine Teile der israelischen Öffentlichkeit und für größer werdende Teile vor allem der jungen Generation in der Judenheit der Welt fraglich, ob ein nationalistisches Verständnis des Judentums wirklich das einzige und für Israel wie für die Juden in der Diaspora allein verbindliche sein kann und sein soll. Im neuen Kontext einer globalisierten Welt und einer immer mehr bedrohten Natur steht Jahrzehnte nach der großen Katastrophe auch die Judenheit wieder einmal vor der Frage nach einem ausschließlichen oder universalen Selbstverständnis, mit eben der Dringlichkeit und mit eben den Dilemmata, welche die Selbstverständnisdebatten der Christenheit und der zum Islam sich zugehörig Fühlenden bestimmen.

Das Leben siegen lassen

In der öffentlichen und politischen Debatte über den Nahost-Konflikt könnte es hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass in der Geschichte und Entwicklung der monotheistischen Religionen, die ja die drei großen Ströme darstellen, die sich aus dem kleinen israelitisch-jüdischen Fluss seit dem Jahrtausend vor unserer
Zeitrechnung gebildet haben, immer wieder drei Gestalten von Selbstverständnis und Gemeinschaftsbildung um Geltung gerungen haben: aggressive Selbstbehauptung, fundamentalistische Selbstabschließung sowie Grenzen überschreitendes Selbstvertrauen. Was im Blick auf die jüdisch-israelische Entwicklung zu beobachten ist, kann der aufmerksame und selbstkritische Zeitgenosse auch in geschichtlichen und gegenwärtigen Manifestationen christlicher und islamischer Kultur finden.
Den religionsgeschichtlich Interessierten, der die Breite der Möglichkeiten kennt, mutet es zunächst einmal merkwürdig an, wie einseitig, fast ausschließlich der politische Zionismus sich auf die aggressive Selbstbehauptung als einzig legitime Gestalt jüdischen Seins festgelegt hat. Die von offiziellen Kreisen gewünschte Wahrnehmung des nationalen Fadens im bunten Geflecht jüdischer Geschichte, sei er königlich-davidisch oder makkabäisch oder zelotisch geprägt, nimmt jedoch gerade die Gestalt ins Auge, die historisch gescheitert ist und schwere Traumatisierungen hinterlassen hat. Die Gestalt, die es jüdischen Gruppen erlaubt hat, ihre Identität weiterzutragen und im Verbund mit nicht-jüdischen Einzelnen und Gruppen weiterzuentwickeln, ist die auf die Erhaltung und Fortschreibung der alten Überlieferung konzentrierte Gestalt der Selbstabschließung gewesen. Die Gestalt des Grenzen überschreitenden Selbstvertrauens hat sich besonders erfolgreich zunächst in der von nationalen und orthodoxen Kräften damals kräftig abgelehnten hellenistischen Welt entwickelt. Mit der in der ägyptischen Diaspora – in einem großartigen Wissenschaftsprojekt, wie wir heute sagen würden – vorgenommenen Übersetzung der hebräischen Bibel in die damalige Kultursprache, das Griechische, konnten die universalen Werte des Judentums in die Weltgeschichte eingehen. Die danach ins Lateinische und in viele weitere Sprachen übersetzten Bibelausgaben, denen ein knapper Anhang beigefügt war, Neues Testament genannt, inspirierten Unzählige, stießen Befreiungsprozesse an und prägten Menschen- und Flüchtlingsrechte.
Den jüdischen und nicht-jüdischen Kritikern der nationalistischen Verengung im Laufe der jüngeren Geschichte, in der eine Form des Zionismus schließlich zum politischen Erfolg kam, steht allerdings an, sich daran zu erinnern, dass den nicht-nationalistischen Gestaltungen des Judentums im vorigen Jahrhundert keine Chance gegeben war. Ob religiös liberal oder konservativ, ob politisch revolutionär oder reformistisch, ob säkular aufgeklärt oder ultra-orthodox, die nicht-zionistischen Verwirklichungspläne von Millionen Juden scheiterten am Absolutheitsanspruch christlicher Nationen, an deren Kämpfen um politische Vormacht und wirtschaftliche Hegemonie, auch an antijüdischen Vorurteilen und Machtkämpfen in den revolutionären Bewegungen. Im Laufe der Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930 suchten daher Millionen Juden ihr Heil in der Auswanderung in die so genannte Neue Welt, Zehntausende ins zunächst noch türkische, später britische Palästina. Nach Palästina kamen mehrere Zehntausend jährlich erst, nachdem die Konferenz von Evian im Jahre 1938, die eigens zur Festlegung von Kontingenten zur Einwanderung für die in Deutschland bereits entrechteten und verfolgten und in den Ländern Osteuropas bedrohten Juden einberufen worden war, ohne Ergebnis blieb. Außer der Dominikanischen Republik, die 400 Visa anbot, war kein Land bereit, seine Einwanderungsquote wesentlich zu erhöhen. Angesichts der begrenzten Möglichkeiten zur Rettung erreichte die große Katastrophe ihr entsetzliches Ausmaß. Seither ist es so schwer, ihr gegenüber die angemessene Haltung zu finden, zu Erschrecken und Trauer, Demut und Verantwortlichkeit.
Für die zweite und dritte Generation öffnet sich inzwischen noch einmal neu der Blick für das Vermächtnis der Umgekommenen, das von den Überlebenden gerettet seine Schätze in der Gegenwart zu entfalten vermag. Neben dem schon angesprochenen Interesse für Fragen der Erziehung, der persönlichen Identitätsbildung und der sozialen Beziehungen ist es nicht zuletzt die einzigartige Idee und Praxis autonomer Gemeinschaftlichkeit, die für die Bewältigung der innerstaatlichen Probleme der Gegenwart fruchtbare Impulse zu geben vermag. Im Zusammensein der nationalen und kulturellen Gruppen unabhängig von den staatlichen Grenzen und ohne deren Beseitigung grenzüberschreitend Autonomie zu gewähren und zu leben, war der Vorschlag der Denker und politisch Engagierten im und um den 1897 gegründeten „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland“. Die Problematik der zahlreichen Minderheiten in den Staaten Osteuropas findet sich heute bei den Stämmen und Völkern, die von den Kolonialmächten in Staaten mit künstlich gezogenen Grenzen teils getrennt, teils zusammengeschlossen wurden. Michael Wolffsohn hat in seinem politischen Entwurf auf diese Ursache weltweiter Konflikte dringlich aufmerksam gemacht, ohne auf die historische Situation im Osteuropa des vorigen Jahrhunderts ausdrücklich Bezug zu nehmen.
Was an Schriften und Literatur aus der bundistischen Bewegung übrig geblieben ist, wird in New York archiviert und bearbeitet. Die Erforschung dieses nicht-nationalistischen Zweiges jüdischer Geschichtsschreibung, Politik- und Lebenswissenschaft wird seit 1995 besonders im Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig gefördert, dessen erster Direktor bis 2014 Dan Diner gewesen ist. Der Geist dieser Selbstbewusstsein und Offenheit, Sozialität und Mitgefühl, Alltag und Festtag umspannenden freiheitlichen Gestalt jüdisch-jiddischer Kultur ist bis heute erlebbar in den Liedern, der Musik, den Theaterstücken, den Dichtungen und politischen Entwürfen, die von den Überlebenden weitergetragen worden sind. Martin Buber und viele andere haben dieses Erbe lebendig erhalten. Der Geist des aufgeklärten und emanzipierten, des humanistischen und des autonomen Judentums, dessen Träger in der ungeheuerlichen Katastrophe nahezu vollständig vernichtet wurden, könnte über ihre Schriften, Ideen und Modelle, die von den Überlebenden bewahrt, weitergetragen und fortentwickelt wurden, in der Gegenwart und für die Zukunft neue Gestaltungen anstoßen, in sie eingehen und womöglich doch noch zum Frieden Israels und seiner Nachbarn beitragen und zum Segen werden auch für die Völker.
Diesen Beitrag widme ich meinen israelischen Vizemüttern Hanni Ullmann und Miriam Katwan sel.A. sowie meinem damaligen Jerusalemer Kommilitonen Jakob Hessing.

Ausgewählte Literatur
Sami Adwan/Dan Bar-On, Das Historische Narrativ des Anderen kennen lernen. Palästinenser und Israelis. Eine Schulbuchinitiative als Beitrag zur Verständigung in Israel und Palästina, Peace Research Institute in the Middle East (PRIME) 2003. Deutsche Übersetzung Berghof Konflikt Research 2009, erreich bar unter: www.friedenspaedagogik.de/blog/wp-content/uploads/2010/03/primetextbuch.pdf
Uri Avnery, Mein Freund der Feind, Berlin 1988
Ayelet Bargur, Ahawah heißt Liebe. Die Geschichte des jüdischen Kinderheims in der Berliner Auguststraße, München 2004
Dan Bar-On, Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern, Frankfurt 2003
Helga Baumgarten, Kampf um Palästina. Was wollen Hamas und Fatah?, Freiburg 2013
Schalom Ben-Corin, Das Zeichen, Gedicht 1942. Als Lied: Freunde, dass der Mandelzweig Nr. 620 in: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen Niedersachsen, Hannover 1994
Reiner Bernstein, 50 Jahre-Ein halbes Leben auf dem Drahtseil in Deutschland und Nahost, München 2014, erreichbar unter: http://www.genfer-initiative.de/hauptseiten/veroeffentlichung.html
Reiner Bernstein/Jörn Böhme, „Ein national bewusster Jude muss ein Linker sein“. Elieser Feiler. Düsseldorf – Yad Hanna 1993, Frankfurt 1995
Bruno Bettelheim, Die Kinder der Zukunft. Gemeinschaftserziehung als Weg einer neuen Pädagogik, Wien 1971
Dagmar Bluthardt, Geschichte, Theorie und Praxis familienähnlicher Heimerziehung. Dargestellt am Beispiel der jüdischen Pädagogin Hanni Ullmann. Dissertation an der Eberhard-Karls-Universität, Tübingen 2002
Uwe Böschemeyer, Unsere Tiefe ist hell. Wertimagination – ein Schlüssel zur inneren Welt, München 2005
Breaking The Silence. Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten, Berlin 2012
Avraham Burg, Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt 2009
Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen. Das schwierige Verhältnis, Köln 1983
Dan Diner, “Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser”. Eine historisch-politische Bilanz der Palästinenserfrage, Hamburg 1982
Ekkehard Drost, Hoffen auf das Wunder. Meine Begegnungen mit Palästinensern, Israelis und Deutschen, Herne 2013
Simcha Flapan, Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit, München 1995
Viktor Frankl,…trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Wien 1946, 28. Aufl. München 2007
Arno Gruen Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit. Eine Theorie der menschlichen Destruktivität, München 1987
Evi Guggenheim-Shbeta/Eyas Shbeta, Oase des Friedens, München 2004
Rabah Halabi/Ulla Philipps-Heck, Identitäten im Dialog. Konfliktintervention in der Friedensschule Neve Schalom/Wahat al-Salam in Israel, Schwalbach 2001
Niels Hansen, Geheimvorhaben „Frank/Kol“. Zur deutsch-israelischen Rüstungszusammenarbeit 1957 bis 1965, in: Historisch politische Mitteilung. Archiv für Christlich-Demokratische Politik 6/1999, 229-264
Jakob Hessing, Mir soll´s geschehen, Berlin 2005
Bruno Hussar, Ein Weg der Versöhnung. Juden, Christen und Moslems in Israel, Mainz 1988
Wilhelm Kempf, Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee, Berlin 2015
Jörg Knocha, Warum ich Palästina verlasse, Zenith 02/2014, erreichbar unter: www.zenithonline.de/deutsch/gesellschaft/a/artikel/warum-ich-palestina-verlasse-004151/
Ludwig Liegle, Familie und Kollektiv im Kibbutz, Weinheim 1971
John Lyons/Janine Cohen/Sylvie Le Clezio, Stone Cold Justice, erreichbar unter: www.abc.net.au/4corners/stories/2014/02/10/3939266.htm, abc Australia, Sydney
Hermann Meier-Cronemeyer/Ulrich Kusche/Rolf Rendtorff, Israel in Nahost, Hannover 1975
Yohanan Meroz, In schwieriger Mission. Als Botschafter Israels in Bonn, Berlin/Frankfurt 1986, 166
Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt 1983
Martin Miller, Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers. Wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken, Freiburg 2013
Otfried Nassauer, Rüstungskooperationen zwischen Deutschland und Israel. Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit (BITS), Berlin 2003
Sari Nusseibeh, Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina, Berlin 2009
Rolf Rendtorff, Kontinuität im Widerspruch. Autobiographische Reflexionen, Göttingen 2007
Ernst Simon, Nationalismus, Zionismus und der jüdisch-arabische Konflikt in Martin Bubers Theorie und Wirksamkeit, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts, Band 33, Heft 9/1999, 21-84
Tessa Szyszkowitz, Der Friedenskämpfer. Arafats geheimer Gesandter Issam Sartawi. Wien 2011
Michael Wolffsohn, Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf, München 2015
Idith Zertal/Akiva Eldar, Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967, München 2007
Erstveröffentlichung in der Zeitschrift des DIAK israel & palästina Heft II-III 2015
© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen
34