Gedanken zur Reformation

am 31. Oktober 2021 auf Hiddensee

Liebe Gottesdienst-Teilnehmende!

Sie werden Ihre eigenen Gedanken, Assoziationen und Empfindungen haben in Verbindung mit den Themen Reformation und Martin Luther. Es wäre gewiss spannend, von ihnen zu hören und sich darüber auszutauschen. Doch haben wir 500 Jahre nach Luther zwar deutsch-sprachige Gottesdienste. Doch über die monologische Struktur einer antiken Opferfeier sind wir nicht hinausgekommen.

In der öffentlichen Debatte und auch in kirchlichen Diskussionen werden häufig ganz bestimmte Denkfiguren und Handlungsweisen Luthers hervorgehoben. So oder so. Da ist der mutige Mönch, der vor dem Reichstag zu Worms erklärt: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“. Der wird hoch gelobt. Da ist der auf der Wartburg versteckte Bibelübersetzer, dessen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sprache weit gerühmt wird. Da berufen sich evangelikale Prediger und kritische Gelehrte auf die Bibel, die Luther zum zentralen Maßstab christlicher Lehre gemacht habe. Und da ist der Hassprediger Luther, der die Bauern und die Schwärmer, die Türken und zuletzt die Juden mit maßlosem Zorn übergießt und ihnen gegenüber Gewalt rechtfertigt, die ohne Grenzen ist. Es scheint schwer zu fallen, den ganzen Luther zu sehen, mit seinen zarten und mit seinen gewalttätigen Seiten. Und noch schwerer erscheint es, den Menschen zu begreifen, zu verstehen, der sich auf oft entgegengesetzte Weise äußert, der sich beliebt und unbeliebt macht.

Mich persönlich hat früh die psychologische Studie von Erik H. Erikson interessiert, in der dieser dänisch-jüdische, deutsch-amerikanische Forscher die Wucht der Befreiungserfahrung Luthers aus der Brutalität von dessen Kindheit ableitet. Inzwischen wissen wir es noch genauer. Seiner Mutter Lieblingsvers ging so: „Mir und dir ist keiner hold. Das ist unser beider Schuld.“ Wegen einer entwendeten Nuss wurde der erstgeborene Martin von seiner Mutter „bis aus Blut“ geschlagen. Und der Vater war noch gewalttätiger. Luther selbst hat später gesagt, dass er dessen Schrecken wegen vor dem Vater „floh“, ihm „gram“ wurde. Das sich tief in Körper und Seele eingrabende Unheil einer von Gewalt beherrschten Kindheit wird für mich keineswegs dadurch relativiert, dass ich allenthalben lese,  Schläge und Misshandlungen seien damals allgemein üblich gewesen. In meinem Verständnis kämpft Martin Luther bis zum Ende seines Lebens vergeblich gegen die Schatten seiner Kindheit.

Wie Sie wissen werden, hat Luther sich ja zunächst bemüht, den ehrgeizigen Vater zufrieden zu stellen. Er studierte erfolgreich Rechtswissenschaften. Daneben suchte seine Sehnsucht nach Befreiung ihren Ausdruck. Dafür finde ich das Lutherwort bezeichnend: „Musica soll das Seelchen erfreuen.“ Bitte beachten Sie das Verkleinerungswort: „Seelchen“. Doch unter entsprechend gestalteten äußeren Bedingungen gewannen die Schreckgespenster der Kindheit wieder Macht. Ob es das Gewitter bei Stotternheim war oder eine Degen- verletzung, eher unwesentlich. Luther selbst hat später gesagt: „Todesfurcht macht den Mönch“. Und wie oft mag Todesfurcht im Elternhaus und in der Schule und auch noch danach Luther erfüllt haben.

Mit der Hinwendung zur Theologie hat Luther jedenfalls erst einmal dem Vater den Rücken gekehrt. Doch er bewegt sich erneut in einem Zwangssystem, dessen niederdrückende Macht er im Alltag des Mönchslebens immer stärker erfährt und dessen bigotter, vordergründiger Charakter ihm etwa bei seiner Reise nach Rom und zum Papst erkennbar wird. Die immer mächtiger werdende Tendenz im Inneren Luthers fasse ich so zusammen: „Nein, dieses Kirchenleben ist kein besseres Zuhause.“ Der Ablass-Handel, dieses erfolgreiche Geschäftsmodell, mit dem Erlass von Höllenstrafen die kirchlichen Finanzen zu bessern, ist wohl nur der letzte äußere Anlass für Luthers oppositionelle Haltung, die allerdings einen Nerv der Hierarchie trifft. Zugleich haben wohl zunehmende Lebenserfahrung und Anerkennung, berührende Begegnungen wie mit seiner gütigen Zimmerwirtin  und einem verständnisvollen Beichtvater der inneren Sehnsucht erweiterten Raum gegeben. So ist Luther bereit, in den Versen des Evangeliums, das wir vorhin gehört haben, in diesen Worten des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom das „Tor zum Paradies“ zu entdecken. Gnade, Erlösung, Gerechtigkeit „durch den Glauben an Jesus, ohne des Gesetzes Werke“. (Römer 3, 26+28) Nichts mehr gilt es zu erarbeiten oder zu verdienen! Der Glaube an das Sühnewerk Gottes in Jesus Christus, der Glaube  a l l e i n  reicht! Welche Erleichterung! – Doch die Ambivalenz, die schon die Schriften und das Leben von Paulus zerrissen hatte, ist nicht aufgehoben. Auch der Glaube vermag zum Gesetz zu werden.

Immerhin: Nun hatte Luther die Kraft und die biblische Legitimation, Papst und Kaiser fest entgegenzutreten und ihnen den Kampf anzusagen. Auf der Wartburg machte er sich dann an das große Werk der Bibel-Übersetzung, gelegentlich irritiert von Teufelserscheinungen. Sie erinnern sich an Luthers Wurf mit dem Tintenfass. Vor allem aber wusste sich Luther geschützt durch den starken Arm des Landesherrn, seines fürstlichen Über-Vaters. Und weil es so viele im Land verlangte nach Freiheit und Gerechtigkeit, nahm die Reformation ihren Lauf, in deren Folge sich die evangelischen Kirchen bildeten. Martin Luther allerdings verließ die Wartburg vorzeitig, als ihn die Nachrichten von Unruhen in Wittenberg erreichten. Unordnung vor den Altären und auf den Straßen mobilisierten bei Luther wohl die alten, unerlösten Ängste. Und mit jeder Kritik und In-Fragestellung, mit den Absagen an seinen Weg und seine Autorität nahm Luther nun die Haltung seines Vaters ein, der seinen Einfluss nur mit Gewalt zu sichern vermochte. Die Bauern und die Wiedertäufer, die Muslime und die Juden wurden dem scharfen Schwert der weltlichen Macht überantwortet. Selbst die Eigenen rief Luther zum Totschlag, zum Plündern und Brennen auf. Ich erspare Ihnen und mir Zitate aus Luthers Schriften gegen seine zahlreichen Feinde, zu denen zuletzt auch die Juden gehörten, weil sie nicht evangelisch werden wollten.

Der unaufgelöste innere Konflikt Luthers zwischen Sehnsucht nach Befreiung und der zwanghaften Abwehr von Angst hat, so scheint mir, seine theologischen und staats-politischen Auffassungen stark mitgeprägt. Mit ihnen haben wir Evangelischen ein schweres Erbe übernommen. Am schwersten wiegt womöglich der vorgebliche Schutz durch die staatliche Gewalt, die Anlehnung an den Landesherrn, an die jeweils Regierenden. Das Bündnis von Thron und Altar hat die Entwicklung eines Nationalprotestantismus gefördert, der in der Zeit des Nationalsozialismus verheerende Folgen hatte. Und für die einzelnen Gläubigen blieb bis heute die Kernfrage ungelöst, wie aus Glauben Vertrauen entstehen könne, ohne selbst zum neuen Gesetz zu werden. Lassen Sie mich Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer heute Morgen, meine persönlichen Schlussfolgerungen aus dem bisher Dargelegten vorstellen. Wenn Kirche bei den Menschen eine Zukunft und für die Gesellschaft eine Bedeutung haben soll, ist es mit einer bloßen Reformation, einem wieder in die Form Bringen nicht getan. Es braucht einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel.

Bitte erlauben Sie mir, dies am inneren Konflikt Luthers, an seinem Ringen um Selbstsicherheit und Identität zu verdeutlichen. Als halb gestorbenes Baby auf der Flucht nach Westen, als geschlagenes Nachkriegskind kenne auch ich die Gespenster der Angst, die zu vorschneller Abgrenzung zwingen oder zu überstürztem Rückzug. Ich kenne auch die Verfolgungswahn ähnliche Bedrohtheit durch persönliche In-Fragestellung oder sachliche Kritik. Nach meiner Erfahrung und nach den Einsichten der neueren Traumaforschung lässt sich tief verwurzelte innere Grundangst weder durch angestrengtes Bemühen um persönliche Untadeligkeit beruhigen noch durch den Glauben an ein entferntes Sühnehandeln Gottes. Beides bleibt allzu äußerlich. Das Tor zur Befreiung öffnet sich erst mit der Entdeckung des unzerstörbaren, des heilen Kerns in unserem eigenen Selbst. Mein Lehrer in der Begleitung innerer Bilder, der evangelische Theologe und spätere Logotherapeut Uwe Böschemeyer, hat diese erlösende Erfahrung in einem Buchtitel zusammengefasst: „In unserer Tiefe ist es hell.“

Verwandelnde Tiefen-Erfahrungen, – wo ist Platz dafür in der Ausbildung junger Theologinnen und Theologen, wo in den bis auf den letzten Satz durchgestalteten Agenden unserer Gottesdienste? Dabei ist Resonanz, Berührt-Werden in den Tiefenschichten unseres Seins und Bewusstseins die Quelle menschlicher Intuition und Kreativität. Nach den humanistischen Psychologen belegen das in unserer Zeit die Neurowissenschaften ebenso wie die Sozialwissenschaften. Hartmut Rosa hat eine ganze Soziologie entworfen unter dem Titel: „Resonanz“. Und von der Bedeutung der Leiblichkeit, vom Segen heilender Berührung könnten auch die Religionswissenschaften Wertvolles vermitteln. Wer sich vor der Begegnung mit außerbiblischen Wissenschaften scheut, könnte von den Suchbewegungen der eigenen Mitglieder lernen. Während hierzulande in jedem Jahr Hunderttausende ihre Kirchenmitgliedschaft kündigen, füllen Hunderte, Tausende sonst leer stehende Kirchenräume, wenn – Musik auf dem Programm steht. Ja, hierin hatte Luther doch recht: „Musica kann die Seele erfreuen.“ Luise Reddemann, die innere Bilder in die klinische Traumatherapie eingeführt hat, schreibt begeistert von der heilenden Wirkung Bachscher Kompositionen. Und zu lebensdienlichen Übungen wie Gymnastik und Meditation kommen Menschen in Kirchenräume, die sonst eher fernbleiben. 

Klänge, Bilder, die Töne in der Natur, das Licht des Morgens und des Sternenhimmels, die Fülle der Bilder in uns und um uns, – für all diese haben wir diesen erstaunlich sensiblen und weiten Resonanzraum in uns! Er öffnet uns über alle theologischen und kirchlichen Engführungen hinaus Wege in ein weites und helles Land. Mögen wir uns hinaus trauen und es beleben mit unseren Ausdrucksgaben zum unermesslichen, zum weitergehenden Schauspiel und Konzert der Schöpfung, des Universums. Eingestimmt in den Klang des Lebens wird es uns leichter fallen, unseren Erfahrungen folgend den Resonanzraum, die Tiefenschichten der Seele zu schützen und alle Gewalt zu bannen, die Seelen vergiftet und Körper und Herzen verhärtet. In den Kindergärten und Schulen, an den Universitäten und Volkshochschulen, in den Vereinen und Kirchen, im politischen Leben nach innen wie nach außen gilt es, der Jahrtausende alten Weisheit zu folgen: Macht gibt keine wirkliche Sicherheit. Leben braucht vielmehr Begegnung und Berührt-Werden, braucht offene Augen, Ohren und Herzen, braucht das Teilen von allem Schönen und Guten. Möge es so sein.

© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen