Ferne Heimat Liebe

Predigt am 13.Oktober 2019 in Kloster auf Hiddensee

 

Menschen sind Menschen, sind alle gleichermaßen Menschen. Wir können es uns nicht oft genug in den Sinn rufen, im Blick auf uns selbst wie im Blick auf alle anderen, mit ihren Unterschiedlichkeiten und ihren Verrücktheiten. Menschen sind gleichermaßen Menschen. Diese Einsicht ist im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder aufgeblitzt und festgehalten worden.

Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde. Und er schuf sie als Mann und als Frau.“ Diese Sätze wurden als Zusammenfassung Jahrhundertelanger Erfahrung und Offenbarung an den Anfang der Bibel gestellt.

„Gott lässt die Sonne scheinen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“  Jesus von Nazareth nimmt mit diesen Worten der Bergpredigt den universalistischen Strom der jüdisch-hebräischen Tradition auf. Dieser Impuls Jesu setzt sich dann fort in der Überlieferung der Tochter-Religion, im Christentum.

Lebensrecht für alle, Gleichheit von Mann und Frau. Zumindest prinzipiell gelten diese Grundsätze seither.

Auch der Koran weiß um die Gottgeschaffenheit aller Menschen und Völker in und trotz ihrer Unterschiedlichkeit.

Nahezu in allen bekannten religiösen Traditionen findet sich, wie versteckt auch immer, die praktische Schlussfolgerung aus der Einsicht in das Menschsein aller Menschen:

„Behandelt eure Mitmenschen so, wie ihr behandelt werden möchtet!“ So sagt es Jesus.

Als Sprichwort vom deutschen Volksmund in der Verneinung weitergegeben heißt es:

„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“

Zu Recht wird dieser Verhaltensgrundsatz die GOLDENE  REGEL genannt. Das bestätigt auch die heutige Wissenschaft. Seitdem Forscher im Gehirn von Menschen und Säugetieren die Spiegel-Neuronen entdeckt haben, steht fest, dass Menschenwesen darauf angelegt sind, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen und mitzufühlen. Empathie, so drückt es die Gehirnforschung aus, ist uns angeboren. Mitgefühl ist eines jeden Menschen Potential, seine wohl großartigste Möglichkeit.

Menschen sind gleichermaßen Menschen. Das lässt sich auch im Alltag erleben. Sie kennen gewiss aus ganz unterschiedlichen Begegnungen dieses AHA-Erlebnis: Sie spricht ja genau von dem, das mich auch umtreibt. Oder Sie haben jemanden kennengelernt und Sie spüren, wie sehr Sie berührt sind und wie tief Sie mit der anderen mitempfinden und als sie oder ihn wertvollen Menschen erleben.

Als ich zwei Jahre lang in Jerusalem studiert und in Israel gelebt und mich bewegt habe, ist mir irgendwann ganz deutlich geworden: Diese Juden, diese jüdischen Israeli, mehr oder weniger fromm, haben dieselben menschlichen und sozialen Probleme wie wir. Sie bieten dieselben gegensätzlichen Lösungsvorschläge an wie wir. Sie belegen sie lediglich mit Elementen ihrer Tradition. Meine Tradition mit ihren gegensätzlichen Lösungsvorschlägen ist demgegenüber nicht grundsätzlich überlegen. So ist der mir aus dem Theologiestudium bekannte Absolutheitsanspruch des Christentums lebensmäßig von mir abgefallen. Seitdem spreche ich jeder Religion und Weltanschauung einen Überlegenheitsanspruch ab. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass sich die Wahrheit ganz konkret zeigt, an der Menschlichkeit der jeweiligen Anhänger.

Doch merkwürdig, wenn wir darauf schauen, wenn wir genauer hinsehen. An allen Ecken und Enden werden relativierende Fragen gestellt. So wie der  fromme und gelehrte Mann in der Begegnung mit Jesus fragt: „Wer ist denn überhaupt mein Nächster?“

Allerorts werden Ausnahmen gemacht von der Allgemeingültigkeit der GOLDENEN  REGEL und ihrer Maxime, das Lebensrecht der Anderen zu achten. Wer gemeinschaftliche Grundsätze verletzt, wird des Todes schuldig erklärt. So wird die Todesstrafe gerechtfertigt, in der hebräischen Bibel und im Neuen Testament, im heutigen Israel und vielen auch muslimischen Staaten dieser Erde.

Und wenn wir als Volk oder Nation überfallen und angegriffen werden? Ganze Bücher füllen die Bestimmungen zum „Heiligen Krieg“ in der Bibel und im Koran, die Abhandlungen zum  so genannten gerechten Krieg in der christlichen Überlieferung. Und am Ende ist es womöglich erlaubt oder gar religiös geboten, fremde Gruppen zu vernichten, mit Mann und Esel, mit Frauen und Kindern.

Während ursprünglich Märtyrer Glaubenszeugen waren, die gewaltlos ihr Leben gaben, werden von islamistischen Vertretern inzwischen diejenigen Märtyrer genannt, die bei ihrem Selbstmord möglichst viele so genannte Ungläubige mit in den Tod reißen. Und von den fanatischen Verfechtern weißer Überlegenheit werden inzwischen im Internet diejenigen als die größten Helden gefeiert, die die größte Zahl an Nichtweißen, seien es Juden oder Muslime, umgebracht haben.

Ich war lange beeindruckt von der Rigorosität der buddhistischen Lehre, die vorschreibt, keinem zu schaden, selbst wenn es das eigene Leben kostet. Doch inzwischen erfahren wir aus den Nachrichten von Menschen und Offizieren in Myanmar mit buddhistischem Bekenntnis, welche die muslimische Minderheit der Rohingya verfolgen und vertreiben.

Doch wir brauchen nicht nach Draußen zu schauen. Unsere eigene Geschichte kann uns genug zu denken geben. Seit dem Bündnis des römischen Staates mit dem Christentum unter Kaiser Konstantin, ist es Christen erlaubt, am Militärdienst teilzunehmen. Auf den Routen der Kreuzritter wurden jüdische Gemeinden überfallen. Christliche Theologen rechtfertigten begeistert den 1.Weltkriegen und blieben überwiegend unberührt von der Katastrophe der Judenvernichtung im nationalsozialistischen Deutschland. Die Flugzeuge, welche die massenmörderische Fracht der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwarfen, wurden vor ihrem Abflug von christlichen Geistlichen gesegnet.

 

An der Zusammenstellung der Texte dieses Sonntag habe ich ziemlich lange gebastelt, um zu vermeiden, Ihnen den mit der neuen Perikopenordnung eingeführten Text aus dem Buch Josua darbieten zu müssen. Das Buch Josua ist das wohl kriegerischste Buch der hebräischen Bibel. Es schildert die Einnahme des Gelobten Landes durch die Israeliten als Kette ethischer Säuberungen. Eine Stadt nach der anderen wird zerstört. Ein Stamm nach dem anderen wird ausgerottet. Dabei blieb nichts übrig, wie es mehrfach heißt, das Odem hatte. Auch wenn Archäologen und Historiker die Erzählungen des Buches Josua und anderer biblischer Texte für reine Phantasiegebilde halten, werden sie von fundamentalistischen Vertretern als Leitlinien herangezogen für den Umgang mit Fremden, weil sie in der Heiligen Schrift stehen und für wahr zu halten sind. Im Internet erklären evangelikale Autoren, Gott werde sich bei diesen Abscheulichkeiten schon was Gutes gedacht haben. Nationalreligiöse Fanatiker im heutigen Israel rechtfertigen mit solchen biblischen Inhalten Ausgrenzung und Besatzung der Palästinenser.

 

Was bleibt uns, wenn wir über den bedrückenden Befunden der Religionsgeschichte und den erschütternden Nachrichten dieser Tage nicht verzweifeln wollen?

Nach lebenslanger Beschäftigung mit dieser Frage und aufgrund von Selbsterfahrungen ist mir eine weitere Erkenntnis immer wichtiger geworden. Die großartige Möglichkeit menschlichen Mitgefühls ist, und das macht das menschliche Drama aus, – das Potential des Mitgefühls ist an eine wesentliche Voraussetzung geknüpft, an gute persönliche Erfahrungen in den frühen Kindheitsjahren. Die Entwicklungspsychologie hat

bis ins Einzelne entschlüsselt, was die deutsch-jüdische Dichterin Mascha Kaleko dichterisch so treffend auf den Punkt gebracht hat:

„Man braucht nur eine Insel, allein im weiten Meer.

Man braucht nur einen Menschen, den aber braucht man sehr.“

Als Erwachsenen tut uns eine Insel gut, wie wir Besucher auf Hiddensee es genießen. Für Kinder ist der eine Mensch unerlässlich, der spiegelndes Gegenüber ist. Fehlt in der frühen Kindheit die Zuwendung des einen Menschen, kann sich der Resonanzboden für Mitgefühl nur schwer entwickeln. Der Gefühlsboden wird hart, schließlich abwehrend. Aus mangelnder Vertrautheit mit den sanften Seiten des Lebens entstehen Angst und Aggressivität. Diese kann sich gegen die eigene Person richten. Dann ritzen sich Menschen später die Haut oder neigen zu allen möglichen Weisen der Selbstsabotage und Selbstzerstörung. Die Aggressivität kann sich auch nach außen richten. Dann suchen Ungeliebte nach Wegen, sich in der Macht über andere stark und überlegen zu fühlen.

Arno Gruen, der große deutsch-jüdische Psychotherapeut ist den inneren Beweggründe der wachsenden Zahl von Amokläufern nachgegangen und hat im Gefängnis mit solchen Straftätern erfolgreich gearbeitet. Dabei hat sich gezeigt. Mit entsprechenden Anstrengungen lässt sich Mitgefühl später noch entdecken. Eine friedliche Revolution, eine friedliche Entwicklung dieser Welt ist also keine unerreichbare Utopie.

Vielleicht erinnern sich Einzelne von Ihnen an den Ruf im Herbst des Jahres 1989: „Keine Gewalt“. Hunderfach von vielen wiederholt hielt dieser Ruf die Provokateure, die Ungestümen und die Sicherheitskräfte in Schach und trug mit bei zur Wende in der DDR. Doch es brauchte die Mehrheit der furchtlos zu gewaltlosem Handeln Entschlossenen.   

Ist dagegen eine Mehrheit von Bürgern ihren wesentlichen Bedürfnissen entfremdet, innerlich und sozial verunsichert und tief frustriert, dann droht die Gefahr, dass sie einen der ihren wählen und einem Hasspolitiker an die Macht helfen. Namen brauche ich nicht zu nennen.

 

Es reicht eben nicht, die 10 Gebote zu kennen oder von Nächstenliebe gehört zu haben. Es ist auch unzureichend, Gewalt zu verbieten, so ausgeschlossen ihr Gebrauch sein muss, besonders im Umgang mit Kindern und mit Frauen, und überhaupt mit jedermann.

Das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samaritaner zeigt es so eindrücklich wie weise. Natürlich wissen der Priester und der Kantor vom Gebot der Barmherzigkeit. Doch sie lassen ihr Leben von beruflichen Zwängen bestimmen. Bei ihnen ist nicht zureichend ausgebildet, wozu der andersgläubige Samaritaner in der Lage ist. Was Luther mit „jammerte ihn“ übersetzt, ist im Urtext ein körperliches Gefühl in den Eingeweiden, eine spürbare Rührung des Herzens, die dem Hinschauenden gar keine Wahl lässt als dem Überfallenen zu helfen, zum erst mal Nötigsten. Kasuistische Spitzfindigkeiten führen in die Irre, macht Jesus deutlich. Entscheidend ist, hinzugehen und das Gleiche zu tun. Wie uns das gelingt?

Die Schweizer Erzieherin Rebecca Wild hat in Ecuador einen Kindergarten und eine Lebenskommune mitgegründet. Das Vorgehen in diesem Kindergarten hat mich nachhaltig beeindruckt. Es gibt nur eine einzige feste Regel, keine Gewalt zu dulden. Wenn ein Kind aggressiv wird und übergriffig, wird es sofort unterbrochen und von den anderen Kindern getrennt. Und draußen oder in einem anderen Raum nimmt sich eine andere Erziehungskraft des aggressiven Kindes an und spricht mit ihm so lange, bis sie gemeinsam herausgefunden haben, was ihm am Morgen vor dem Kindergarten passiert ist oder was sonst geschehen ist, dass es aus lauter Frustration auf das andere Kind losgehen musste.

Manchmal wissen wir als Erwachsene im Nachhinein, wo wir uns wichtige Bedürfnisse vernachlässigt haben, bevor wir ungerecht oder laut wurden oder aus der überspannten Haut fuhren. Manchmal können wir uns bemühen, unseren Alltag so zu gestalten, dass wir in die Lage kommen, uns selbst und den Anderen gerecht zu werden.

 

Selbstachtung und Mitgefühl zur unabdingbaren Regel und allgemeinen Lebenspraxispraxis werden zu lassen, dieses Ziel bringt große Herausforderungen mit sich, für unsere Kirchengemeinden, für die Sozialpolitik und die uns überkommene Strafjustiz. Weltweit könnte dieses Ziel unsere Wirtschaftsordnung neu ausrichten und eine Friedenspolitik inspirieren, die diesem Namen entspricht. Persönlich und im persönlichen Umgang mit anderen bleiben wir gerufen und haben wir die Chance, unsere Unsicherheit und unsere Ängste wahrzunehmen und anzunehmen und unserer Sehnsucht treu zu bleiben, wie Mascha Kaleko das gelebt und gedichtet hat:

 

Ausgesetzt in einer Barke von Nacht trieb ich und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen. Am Sandhügel gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlass. Nur auf Wunder.

Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht, trank von dem Wasser, das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen, fror ich mich durch die finsteren Jahre.

 Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.

 

So möge es sein. Für uns und für möglichst viele!

 

© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen

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