Für eine Wende zum Leben

Predigt zum Jahreswechsel 2012/13 in Winzingerode

Während der Familienfreizeit oben auf Burg Bodenstein haben wir im kleinen Kreis über die Jahreslosung für 2013 gesprochen: Wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir. (Hebräerbrief 13,14) Kann uns dieses Wort nahe kommen? Einzelne unter uns meinten, da habe es doch vor ein paar Jahren eine mehr einleuchtende Losung gegeben: „Suchet der Stadt Bestes!“ Eine junge Frau hatte im Blick auf ihre Arbeitskolleginnen Zweifel, dass sie denen die neue Jahreslosung würde nahe bringen können. Doch schließlich traute sich ein Teilnehmer zu sagen: „Ich war einmal in einer so schwierigen Lage, dass ich meine vertraute Wohnung aufgeben und weit weg ziehen musste. Damals hat mir ein Freund eine Karte mit diesem Text geschickt. Der hat mich damals sehr getröstet.“
Wir haben hier keine bleibende Stadt. Etwas daran ist wohl war. Es gibt keine äußeren Bedingungen, die unbedingt sein und bleiben müssten. Zufriedenheit und Glück hängen nicht an einem bestimmten Inhalt. Vielmehr ist für unser Werden und Reifen immer wieder auch Loslassen und Weitergehen nötig: Jugendliche brauchen in der Regel einen anderen Ort als das Elternhaus, um wirklich selbständig zu werden. In den Evangelien wird dies auch von Jesus berichtet.
An unserem Gespräch ist mir wieder einmal deutlich geworden, dass es die für alle passende Losung gar nicht geben kann. Die biblischen Texte wollen zu unseren Lebenserfahrungen in Beziehung gesetzt werden. Unter unterschiedlichen Bedingungen kommt es je nachdem zu Zustimmung oder Widerspruch. Diese Notwendigkeit zu differenzierter Entscheidung hat der Religionssoziologe Peter Berger einmal den Zwang zur Häresie, den Zwang zur Abweichung genannt. Trauen Sie sich daher, zu widersprechen, wenn Ihnen etwas nicht einleuchtet, und weisen Sie getrost auf das hin, das Ihnen gut getan hat. Ich bin sicher. Wenn Sie lange genug suchen, finden Sie die Mitmenschen, die ähnlich wie Sie empfinden. Gemeinschaftlich können wir uns in dem bestärken, dass gut tut, ohne Anderen damit schaden zu müssen. Wir brauchen wohl alle solch kleine Gemeinschaften, in denen wir gesehen werden und sagen dürfen, was uns auf der Seele liegt. Was für ein Segen, wenn Familien mit kleinen oder größeren Kindern dafür Raum zu geben vermögen. Was für ein Segen, wenn Familien ihrerseits eingebettet sind in einen weiteren Kreis von Freunden, Verwandten oder Nachbarn, so dass die Jugendlichen über die Kleinfamilie hinaus Orientierung finden.
In solchen Zusammenhängen können Kinder und Jugendliche ihre Möglichkeiten entwickeln und unmittelbar erfahren, dass Freiheit dann gelingt, wenn Gleichberechtigung besteht und jede und jeder das zum Leben und Gedeihen Notwendige bekommt.
In solch überschaubaren Gemeinschaften, wie sie über die Jahrtausende die Basis der Menschheit bildeten, kann sich eine Menschenfreundliche Kultur entwickeln, eine Ethik der gegenseitigen Achtung und Beachtung. Wie andere Weisheitslehrer vor und nach ihm hat Jesus von Nazareth in der Goldenen Regel positiv zusammengefasst, was im deutschen Sprichwort negativ gewendet ist: Was Ihr wollt, dass Eure Mitmenschen Euch tun, das tut ihnen! (Matthäus 7,12)
In kleineren Gemeinschaften ist es einleuchtend, dass es zum Überleben Aller hilft, wenn wir den Anderen nach seinen Wünschen fragen, wenn wir ihm helfen, sein Leben zu bewahren und zu entwickeln. In kleineren Gemeinschaften weitet sich solche Achtung wie von selbst aus auf die umgebenden Kostbarkeiten der Natur und auf die Vielfalt der Pflanzen und Tiere. Ihr erfahrbarer Sinn ist wohl der Grund dafür, dass sich die goldene Regel der gegenseitigen Achtung in allen spirituellen Traditionen und religiösen Überlieferungen findet.
Manche erstaunt das. Andere nutzen es. Der katholische Theologe Hans Küng hat die gemeinsamen Einsichten in das dem Leben Dienliche in dem von ihm entwickelten Welt-Ethos zusammengefasst. Im Jahre 2003, 100 Jahre nach der ersten Zusammenkunft, ist das Weltparlament der Religionen erneut in Chicago zusammengetreten und hat sich auf eine Erklärung zum Welt-Ethos verständigt. Seither hat diese Erklärung viele auch prominente Unterstützer gefunden. Auf der Tagung der ÖKUMENISCHEN INITIATIVE EINE WELT, die ebenfalls in diesen Tagen auf der Burg stattfindet, haben sich die Teilnehmer auch mit der Frage beschäftigt, wie es kommt, dass die Grundregel gegenseitiger Achtung trotz verbaler Zustimmung in der Wirklichkeit unseres Landes, Europas und der Welt im Ganzen immer weniger beachtet wird. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte weckt vielfach Besorgnis.
Der Abbau des so genannten Wohlfahrtstaates in unserem Land, die wachsende Not der Landbevölkerung in den meisten Ländern dieser Erde, die gewaltige Konzentration von Bodenschätzen, Geld und Macht in der Verfügungsgewalt von einer Hand voll Mächten und von wenigen Dutzend transnationalen Unternehmen, all das vollzieht sich in eklatantem Widerspruch zur Goldenen Regel: Was Ihr wollt, dass die Mitmenschen Euch tun, das tut ihnen! Die wirtschaftliche Entwicklung hat sich erstmals in der Geschichte der Menschheit abgekoppelt von dem Ziel, dem Wohlergehen der Menschen in den jeweiligen Gemeinschaften zu dienen. Fast alle Staaten der Erde jagen dem Ziel weiteren Wirtschaftswachstums nach, ohne sehen zu wollen, dass anderen die Chancen zum Wachstum genommen werden, wenn einer immer weiter wachsen will. Das Wachstum Deutschlands hat sich in den letzten 10 Jahren zu Lasten der heute von Krisen geschüttelten Staaten Südeuropas vollzogen: Griechenland, Spanien, Portugal, und auch Italien. Die Unterstützung von Banken dient vor allem der hiesigen Finanzindustrie.
Die betroffenen Menschen bleiben in ihren Lebensmöglichkeiten bedroht. Während die Zahl der Millionäre und Milliardäre rasant zunimmt, reichen die Lebensmöglichkeiten der Menschen in den weniger entwickelten Regionen Afrikas kaum oder gar nicht mehr aus. Jean Ziegler, der frühere Berichterstatter für die Vereinten Nationen, hat die erschütternde Wahrheit über die Armen in den Elendsgebieten in den Buchtitel gefasst: Wir lassen sie verhungern. Kann der Hinweis auf die Goldene Regel weiter führen? Wohl kaum. Im Übergang von den regionalen Gemeinschaften zur Weltwirtschaft haben sich Unternehmen und Institutionen so verselbständigt und solche Macht gewonnen, dass sie auf Achtung durch Andere nicht mehr angewiesen sind. Sie holen sich mit Geld und Macht und gegebenenfalls mit Waffen, was sie zu brauchen meinen.
Dieser Tage habe mich an ein Wort von Vincent van Gogh erinnert, aus seiner Anfangszeit, in der er als schwärmerischer Prediger über Land zog: „Eigentum ist Diebstahl.“ Was bedrohlich klingt, wenn wir an das kleine Eigenheim denken, findet in der gesellschaftlichen Gegenwart vielfache Bestätigung. Wenn ein Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung ein Jahresgehalt von 200.000 Euro bezieht, empfinde ich das als Diebstahl an den einfachen Beitragszahler, auch wenn es juristisch nicht Diebstahl genannt werden kann. Dasselbe gilt für Intendanten von Rundfunkanstalten oder für Gewerkschaftsvertreter, wenn sie Gehälter oder Aufsichtsrats-Bezüge erhalten, die das Zwölffache von Normaleinkommen übersteigen. Bei den großen Unternehmen übersteigen die Bezüge der Leitenden das Durchschnitteinkommen sogar um das Hundertfache. In den letzten Jahren bin ich zu der ernüchternden Einsicht gelangt, dass sich die Fehlentwicklung unserer Wirtschaft nicht allein dadurch ändert, dass Andere an die Regierungsmacht kommen. Die politisch zugelassene Eigenmächtigkeit der Kapitalkonzentration ist von oben her schwer einzudämmen. Auch wenn er nur die Verhältnisse im Mittelmeerraum vor Augen hatte, Jesus hatte gute Gründe, als er feststellte: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ (Matthäus 6,24)
Deshalb leuchtet mir ein, dass es nötig ist, nach Wegen zu suchen, wie wir die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, um eine Losung der südamerikanischen Befreiungsbewegung aufzunehmen. Der von Dietrich Bonhoeffer verwendete Begriff Widerstand hat für mich heute einen zu militanten Klang, auch wenn die Wende in der früheren DDR gezeigt hat, dass es möglich ist, eine Machtelite friedlich zu entmachten, jedenfalls bis die nächste das Heft in ihre Hände nimmt. Macht-Entzug erscheint mir als der einzig verantwortbare Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse mit verlockender Wirtschaftsmacht auf der einen und immer stärker eingeschränkten Lebensmöglichkeiten auf der anderen Seite. Werden wir die Kraft und den Mut finden, in Gruppen, Netzwerken und genossenschaftlichen Betrieben für das gemeinschaftlich Notwendige zu sorgen und die großen Handelsketten auf ihren geplünderten Schätzen sitzen zu lassen? Und wie können wir es schaffen, die Halt gebenden und Sinn stiftenden regionalen Gemeinschaften so zu vernetzen, dass auch eine globale Wende möglich wird?
Viele Fragen, wichtige Aufgaben, für das Neue Jahr und darüber hinaus. Womöglich ist es doch wieder an der Zeit, jedenfalls im
Blick auf das weltweit herrschende Wirtschaftssystem zu sagen: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Das, wonach wir suchen, lässt sich nach meiner Überzeugung allerdings nicht in eine Dimension jenseits der irdischen Grenzen verschieben. Wenn wir als Menschen und als Glaubende ernsthaft auf dem Weg bleiben wollen, dürfen wir unsere Hoffnungen nicht auf das himmlische Jerusalem vertagen, sondern haben als Zwischenziel anzunehmen, was uns nach der Überlieferung aller Religionen gegeben und aufgegeben ist: eine Lebenswerte Schöpfung.
Die gemeinsame Ökumene, die weltweite Gemeinschaft auf der Erde als dem Haus des Lebens, bedarf eines vielfältigen Netzes kleinerer und größerer Ökonomien, die wieder ihrem eigentlichen Ziel dienen, der Wohlfahrt der Menschen. Dass Junge und Alte, Wissenschaftler und Handwerker diese Vision voranbringen, so wie Nico Paech und Ulrich Duchrow, so wie Lehrlinge im biologischen Landbau und Frauen in neuen Praxisgemeinschaften, zeigt mir einmal mehr die Wahrheit des Wortes von Hölderlin: „Wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch.“ Ja, das glaube ich mit all den anderen Liebhabern des Lebens: Dieser Schöpfung und all ihren Geschöpfen ist ein Impuls eingestiftet, der auf das Gute zielt. Dieser Impuls des Lebendigen zündet immer wieder neu Möglichkeiten, auf die wir uns einlassen dürfen, im Kleinen wie im Großen, jedes Jahr, jeden Tag, jeden Augenblick neu.

Gott gab uns Atem, damit wir leben
Gott gab uns Atem, damit wir leben. Er gab uns Augen, dass wir uns sehn. Gott hat uns diese Erde gegeben, dass wir auf ihr die Zeit bestehn. Gott hat uns diese Erde gegeben, dass wir auf ihr die Zeit bestehn.
Gott gab uns Ohren, damit wir hören. Er gab uns Worte, dass wir verstehn. Gott will nicht diese Erde zerstören. Er schuf sie gut, er schuf sie schön. Gott will nicht diese Erde zerstören. Er schuf sie gut, er schuf sie schön.
Gott gab uns Hände, damit wir handeln. Er gab uns Füße, dass wir fest stehn. Gott will mit uns die Erde verwandeln. Wir können neu ins Leben gehn.
Gott will mit uns die Erde verwandeln. Wir können neu ins Leben gehn.
Text: Eckart Bücken 1982 Melodie: Fritz Baltruweit 1982

Zum Märchen vom Froschkönig

Predigt in der Friedenskirche Göttingen 2. Juni 2013

Märchen erzählen von äußeren Begebenheiten und meinen innere Entwicklungen. So ist es auch beim Märchen vom Froschkönig, dem ersten im vor 200 Jahren erstmals erschienenen Band „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm Es gibt ganz unterschiedliche Deutungen dieses Märchens. Ich sehe in ihm ein Gleichnis für die innere Entwicklung eines jeden Menschen. In ihr geht es um die Überwindung des Konflikts zwischen von Außen übernommenen Idealen und der tief ersehnten eigenen Bestimmung. Der Weg zur individuellen Ganzheit, den das Märchen aufzeigt, ist auch für uns gangbar.
Wir haben wohl alle eine Glanz- und Schokoladenseite. Vielleicht ist es etwas anderes als die auffallende Schönheit der Königstochter. Irgendein Talent, eine bestimmte Eigenschaft, wird es bei jedem von Ihnen geben, die Sie glänzen lassen sollten nach dem Willen des väterlichen oder mütterlichen Schlossherrn. „Sei strahlend und fröhlich!“. „Sei brav und halte dich an die Regeln!“ „Sei erfolgreich und stark“. So oder anders können die Aufforderungen der Eltern oder der selbst gesetzten Ideale lauten.
Das kann uns zunächst weit bringen im Leben. Doch früher oderspäter können solche Forderungen auch zum quälenden Zwang werden. Wie sehr verbiegen sich Manche, wie viele Opfer bringen Menschen, damit der äußere Eindruck stimmt und die Harmonie gewahrt bleibt und die Aussicht, von goldenem Geschirr zu essen und in einem schönen Palast zu wohnen! Doch auf Dauer ist solches Streben nach äußerlicher Erfüllung schwer auszuhalten. Nur angetrieben von elterlichen Idealen, nur auf die zustimmende Reaktion der Umwelt bedacht kann einem heiß und schwindlig werden im edlen Palast, selbst in den besten Verhältnissen. Die Gestaltungsseite in uns Menschen überhitzt sich, läuft leer, wenn ihr die Verbindung zur Gefühlsseite in uns fehlt, der Anschluss an die in den Tiefenschichten der Seele liegenden Sehnsüchte und Ahnungen.
Deshalb ist es notwendig, ja es wird letztlich die Rettung der Königstochter, dass sie den Palast verlässt und in den dunklen Wald geht. Unter einer alten Eiche sprudelt der kühle Brunnen. Wenn die Königstocher Langeweile hat, sie des königlichen Betriebs in seiner Gleichmäßigkeit überdrüssig geworden ist, folgt sie ihrer Sehnsucht nach Ganzheit und tiefem Sinn. Sie spielt mit dem Gedanken einer Rundung ihres einseitig auf Glanz und Eindruck ausgerichteten Lebens. Alkohol, Kaufrausch, sexuelle Gier – häufig sind solche Süchte versteckter Ausdruck einer Sehnsucht nach innerer Ganzheit und Verbundenheit mit den Tiefenschichten der Seele. Doch wo lernen Kinder und Jugendliche den unverstellten Zugang zu den häufig widersprüchlich erscheinenden Welten des Gefühls in ihrem Inneren?
Tatsächlich kann die Zuwendung zu den Gefühlsschichten in uns, wie die Prinzessin es erlebt, erst einmal zu Schrecken und Abwehr führen. Dunkle Erinnerungen mögen auftauchen, hässliche Szenen früher Überforderung, des Allein-Gelassen-Seins, der Ohnmacht oder der Angst. Die verletzte Seite, die aus der Tiefe der Erinnerung in uns auftauchen mag, ist – wie der Frosch es der Prinzessin entgegnet – mit dem äußeren Glanz des geordneten Lebens gerade nicht zu beeindrucken. Diese früh verdrängte, verletzte Seite will ganz nah heran gelassen werden, bei Tag und bei Nacht. Die Ahnung von einer frühen Entfremdung können wir heldenhaft zu überwinden suchen durch die Bereitschaft, allen anderen unsere Hilfe anzubieten, so wie es der Frosch gegenüber der Prinzessin tut. Die Ahnung von Schmerz und Not in früheren Lebensphasen kann uns auch so bedrohlich vorkommen, dass wir es lieber wie die Prinzessin machen und schnell davonlaufen vor der Zumutung des hässlich wirkenden Frosches in uns. Mag sein, dass wir dann zunächst versuchen, die Türen der Erinnerung dichtzuhalten und uns ganz auszurichten auf die Etikette bei den festlichen Mahlzeiten im Palast.
Doch die Türen der Erinnerung, die Tore des Gefühls, lassen sich auf Dauer nur dichthalten um den Preis von Entstellung, Krankheit oder Gewalt gegen andere. Immer wieder klopft die Frage nach dem eigentlichen Sein, die Verheißung eines ganzheitlichen Lebens an unsere Tür, in Träumen, in der Begegnung mit anderen Menschen, in Konflikten und Krisen. In dieser Hinsicht hat der sonst so überstrenge Königsvater Recht: Nur im vertraut Werden mit der Not und der Sehnsucht der eigenen Seele kann sich Veränderung ereignen, Wachstum und Befreiung zum Eigenen.
Allerdings, das Anschauen der frühen Verwirrungen und Verletzungen kann uns auch wütend machen und zornig, auf Eltern, auf bestimmte Umstände in schwierigen Lebenssituationen, auf uns selbst. Doch das Eingeständnis bitterer und zorniger Gefühle bringt keinen um. Das Wort Courage zeigt, worauf es ankommt. In ihm steckt das französische Wort für Herz und das uns auch umgangssprachlich bekannte Wort Rage für Zorn und Wut. Der Zorn unseres Herzens, den wir zulassen und spüren, kann uns die Kraft geben, endlich für das tief empfundene Eigene einzutreten, auch wenn es nötig sein sollte, sich von Anderen unabhängig zu machen und deren Erwartungen zu enttäuschen. Wenn wir uns mit aller Kraft den dunklen und erst einmal hässlich erscheinenden Seiten unserer Entwicklung stellen, ob im an die Wand schlagen der Verzweiflung oder im ans Herz Drücken des inneren Kindes, der Bann vermag sich zu lösen. Es mag mühsam sein, seine Zeit brauchen und manchmal auch Begleitung durch Kundige. Doch wenn es uns gelingt, unsere Unzufriedenheit und die Krisen unseres Leben auf das Neue hin anzuschauen, das sich daraus entwickeln will, dann öffnen sich auch für uns Aussichten, so wunderbar wie im Märchen.
Aus dem verwunschenen Frosch, aus dem als hässlich Abgewehrten entspringt die Gestalt unseres unversehrten Potentials, die eigene Bestimmung zu einem würdevollen und königlichen Leben. Der Königssohn – in uns – braucht nicht länger auf dem Frosch-Sein, dem Opfer-Sein zu bestehen und um Liebe zu betteln, er kann für sich selbst sorgen, auch ohne immer anderen zu Diensten sein zu müssen. Die Prinzessin – in uns – kann die einengenden elterlichen Vorgaben hinter sich lassen und frei in die Welt gehen. Gestaltungsseite und Gefühlsseite können sich hochzeitlich miteinander verbinden. Und mit Sonnenaufgang stehen acht weiße Pferde bereit zur kraftvollen Fahrt in ein Reich des Lebens voll von Tatendrang und Mitgefühl. Und auf dem Weg in unser eigenes Land können sie sich krachend lösen, die alten Fesseln, die so lange das Herz zugleich bewahrt und eingeschnürt haben. Versöhnt können wir lassen, was gewesen ist, und mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Kraft uns dem Leben zuwenden und der Liebe. Statt uns länger mit der eigenen Unvollkommenheit zu quälen, statt an den Fehlern der Anderen uns hochzuziehen vermögen wir uns am Gelingenden zu freuen, bei uns wie bei denen in unserem Umfeld.
Was im Märchen als eine Ereignisfolge im Laufe von zwei Nächten und drei Tagen geschildert wird, ist im realen Leben meist ein langer und oftmals auch anstrengender Vorgang des Ringens, der Mut braucht, oft auch Courage. Manchmal scheint Ablehnung, ja sogar Selbstzerstörung einfacher als die Zuwendung zum Dunkel des eigenen Lebensbrunnens. Doch das Wunder der Verwandlung ist einem jeden von uns möglich. Die goldene Kugel der Ganzheit ist uns in die Wiege gelegt, unser Herz bewahrt ihre Sehnsucht. Die acht weißen Pferde mit den weißen Straußenfedern stehen im Hof unseres Lebens, bereit, uns in eine Welt zu fahren, in der das Leben Sinn macht und Freude und wertvoll ist um seiner selbst willen. Wie die Gleichnisse Jesu vom Reich Gottes will uns dieses Märchen ermutigen, bei uns selbst zu beginnen. Aus der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit des eigenen Empfindens lässt sich herausfinden. Wir können und dürfen sie in unserem eigenen Leben tun, die nötigen und möglichen Schritte hin zu mehr Ganzheit, zur Heilung, zu Versöhntheit und Vertrauen. Die Königskrone, die Krone des Lebens, ist uns allen bestimmt!

Ein weites Herz

Predigt auf Hiddensee, 11. August 2013

Veel Bloomen
Veel Blomen streu ick öwer de Eer, veel Bloomen streu ick wiet henn in`t Meer. Bloomen ut bunte Freudenstid, Bloomen ut deepe Leidenstid. De Stormwind drifft se wiet umher, Wiet öwer de Eer, Wiet öwer datt Meer. Ick seh keen Hand, de dor no langt, Ick seeh keen Hart, dat no mi bangt.
Bald heff ick ook keen Bloomen mehr, Bald sünd min Handen ook doot und leer. Veel Bloomen, de ick von Harten geef, Wie har ick de bunten Bloomen so leef. Jetzt drieft se nu ensom wiet umher, Ensom int Meer, Ensom to Eer.
Un sünd min letzten Doog oook leer, Ick streu de letzten Bloomen in`t Meer
Max Nikolaus Niemeier aus: De Sternseier, 1925

Das kurze Hiddensee-Gedicht, das wie die von ihm bemalte Rosendecke dieser Kirche bis heute an meinen Großvater Max Nikolaus Niemeier erinnert, war mehr als der Ausdruck eines gefühlten Augenblicks.
Dann pack dein Leid und Kram und geh nach Hiddensee. Dort wird dir leicht und frei.
Diese in Hamburger Platt geschriebenen Zeilen waren vielmehr sein Lebensprogramm, Inbegriff seiner Lebenshaltung und seiner Überlebenskunst:
Denn pack dien Leed und Krohm un goh noh Hiddensee, do warst du licht und free.
Die Erinnerungen an die lebhaften Jahre im Künstlerkreis des Café du Dome in Paris zum Anfang des neuen, des zwanzigsten Jahrhunderts hatte er im Gepäck. Auch die zerbrochenen Hoffnungen auf anhaltende Gemeinsamkeit mit den von ihm geliebten Frauen und die begrenzte Aussicht auf Ferien mit seinen Kindern. Und er spürte die schmerzenden Glieder und die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten als Folge der schweren Verletzung aus den furchtbaren Kriegsjahren, die er ausgerechnet
an der Westfront abzuleisten hatte. In den sinnlosen Stellungskämpfen jener Jahre waren Generationen verblutet, für die nicht nur sensible Künstlernaturen zuvor gemeinsame Menschheitsträume gehegt hatten. Wir verstehen jetzt noch besser Anfang und Ton dieses Gedichts:
Hett di de Welt watt dohn un dä di weh und will di nich verstohn, denn pack dien Leed un Krohm un goh noh Hiddensee, do warst du licht un free !
Das Ausrufezeichen am Schluss hat er selbst gesetzt. Nach den Enttäuschungen persönlicher Hoffnungen, nach dem Elend eines zerstörerischen Weltkrieges gelang es Max Nikolaus Niemeier, das Haus in Vitte zu erwerben. Hier lebte er über mehr als 15 Sommer und auch manchen Winter. Hier fand er in kargen Zeiten des Überlebens Aufträge und Gesprächspartner. Hier fand er die tragende, stärkende Ruhe in der Begegnung mit einer herben und doch immer wieder neu Blumen hervorbringenden Natur. Im windstillen Abend am Vitter Bodden ergreift und beschreibt Niemeier die Erfahrung, die allem zum Trotz Ruhe gibt, ja ein Stück Seligkeit:
Der Himmel weitet sich, der Bodden spielt mit dem Abendrot, die Häuser, an die Erde geduckt, stehen in tiefem Frieden. Um diese Zeit, – um düsse Tid, dor slöppt de Dood, dor slöppt de Storm, dor slöppt de Not, un allns is still und lies und good. – Un Gott treckt ook vor Di denn Hoot.
Ein zugewandter Gott, der vor Dir den Hut zieht, erfahrbar, annehmbar im Frieden der Natur, zumindest an windstillen Abenden. Es ist wohl diese elementare, naturwüchsige Frömmigkeit, aus der für Niemeier die Kraft wächst, am Leben festzuhalten und den Blick offen für den Himmel und die Häuser, das Abendrot und die Blumen.
Unmittelbarer als die Engel, stärker noch als die Sterne stehen die Blumen im lyrischen und künstlerischen Werk von Max Nikolaus
Niemeier für die Kräfte der Schöpfung, für den Lebensgrund, aus dem auch Freude zu erwachsen vermag. Vielleicht deshalb hat er zum Erstaunen der einfachen Fischer jener Zeit für die Bemalung des Kirchengewölbes Blumen gewählt, Rosen, Rosen, die in Form und Farbe die Heckenrosen überbieten, die sich an den Wegen und Pfaden dieser Insel finden. Mit Blütenblättern der Heckenrose hat er Bett und Zimmer der einzigen Tochter zu ihrem Geburtstagsmorgen geschmückt, den sie erlebte, wenn sie in den Sommerferien mit dem etwas älteren Bruder zum Vater auf die Insel kam. Blumendekor auf Schränken und Truhen, damit ließ sich noch etwas verdienen, als im Heraufziehen der Weltwirtschaftskrise die Aufträge anderer Art immer spärlicher wurden.
Noch waren gewisse Räume von den Verwertungskräften des Kapitals frei geblieben. Während wir Heutigen mit jedem unüberlegten Einkauf zum Mittäter werden an die Welt umgreifendem Unrecht, blieb Nikolaus Niemeier ein Stück Unschuld bewahrt, wenn ihm als Eintrittspreis für das selbst erfundene Kasperle-Spiel je Kind eine Kartoffel reichte.
Wie seinem allerdings älteren jüdischen Freund Emil Orlik ersparte es auch Max Nikolaus Niemeier der für ihn recht frühe Tod, den Wahnsinn des nationalsozialistischen Deutschland erleben zu müssen. Sein anderer Malerfreund César Klein wurde 1937 als entarteter Künstler geschmäht und seiner Professorenstelle beraubt. Klein fand im holsteinschen Pansdorf sein Hiddensee, seine stille Zufluchtstätte und erfuhr nach dem Weltkrieg noch einen Neubeginn.
Niemeiers drittes Kind Christian allerdings traf in den Wäldern des überfallenen Russland eine verirrte Kugel. Mit 27 Jahren starb er den von ihm zutiefst abgelehnten so genannten Heldentod.
Für Max Nikolaus Niemeier bleibt in der Bedrängnis seines Lebens und im Blick auf die Leiden und die Not der Welt die Aufgabe, sich jedem Tag zu stellen, ihn anzunehmen und aufzunehmen. In existentialistisch anmutender Strenge und Entschlossenheit fasst er diese Überzeugung in Verse in seinem Gedicht: Dien Levensdoog. Frei übersetzt: Deine Lebenszeit. Denk an die Freudenzeiten, schreibt Niemeier, denk an die Leidenszeiten.
Watt hett di Gott all gewen, watt hett die Gott all nohm`n, und doch kannst du bestohn…
Wie in der Bergpredigt Jesu bleibt in allem und über allem die Gnade der weitergehenden Schöpfung:
Und doch schient di de Sünn und du kannst wieder find`n und all dien Bloom, de bleuht.
Welch Einverständnis mit den Höhen und Tiefen des Daseins! Nein, hier gibt es keine Ausflucht in irgendein Wolkenkuckucksheim. Menschliche Verantwortung wird hier ganz ernst und angenommen. Alle Tage des Lebens gehören dazu, die Leidvollen und die schönen.
Gott nimmt uns keinen Tag ab: Un Gott, de nümmt di keen, denn all dien Doog sünd dien in Glück und Leed un Pien. Niemeier kennt auch das in tiefem Schmerz sich rührende Sehnen, das Herz möge so hart werden wie Stein. Doch ihm ist gewiss, das Herz des Menschen ist in der Lage, sich zu weiten in Glück und Leid und Pein.
Dem ehrlichen, demütigen und doch hoffenden Ton dieses Gedichts ist das Gleichnis nahe, das Jesus von Nazareth erzählt hat und das uns als Evangelium dieses Sonntags in Lukas 18, 9-14 überliefert ist. Habe ich Max Nikolaus Niemeier als individuelle Persönlichkeit zu beschreiben gesucht, stellt uns Jesus zwei Prototypen vor Augen, bietet er uns die Wahl zwischen zwei menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten.
Der Selbstgerechte im Hochgefühl seiner Frömmigkeit hat verdrängt, welche wohlwollenden Umstände und harten Zwänge dazu geführt haben, dass er seine private Anständigkeit, seine religiös-politische Korrektheit entwickelt hat. Er hat sich selbstverliebt eingerichtet in seinem kleinen Reich, dessen strenges Regelwerk er aus tiefer Ängstlichkeit hochhält. Seine fixen Regeln sind sein Halt geworden, während er sich seinen Empfindungen und Sehnsüchten immer stärker entfremdet hat. Arno Gruen, der deutsch-amerikanische Psychotherapeut, hat in seinen Büchern eindrücklich die Mechanismen beschrieben, mit denen Erziehung Gehorsam begründet statt Mitgefühl wachsen zu lassen. Wohin der Verlust des Mitgefühls führt, zeigt Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Es sind gerade die beiden um ihre Frömmigkeit Bemühten, der Priester und der Levit, die den Überfallenen einfach liegen lassen. Die Folge von Selbstgerechtigkeit und Überlegenheitsbedürfnis sind Gleich-gültigkeit und Missachtung von allen Andersartigen. Ja, so drückt diese sich aus: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie jene Anderen… Am Ende führt solche Haltung zu Gewaltbereitschaft. So fehl begründete Gewalttätigkeit hat Jesus früh das Leben gekostet.
Der Zöllner, der ins Steuersystem des Römischen Imperiums verstrickte „kleine Mann“, hat sich demgegenüber das Gefühl bewahrt für die demütigenden Wirkungen des Unrechts. Er sieht seine Grenzen und sehnt sich nach dem Wohlwollen der das Leben tragenden Kräfte. Mit einer armselig erscheinenden Geste bittet er den Himmel um Erbarmen und damit um Umstände, die ihm ermöglichen sollen, stärker im Einklang mit seinen Herzensempfindungen zu leben. Es darf uns verstören, es will uns ins Staunen versetzen und zur Nachdenklichkeit bringen, es kann unsere Hoffnung beflügeln, wenn wir der klaren Feststellung Jesu folgen:
Dieser, der sich an die Brust schlug und um Erbarmen flehte, ging gerechtfertigt nach Haus.
Wenn wir diesem dogmatisch klingenden Satz den psychologischen Untergrund hinzufügen, lässt sich sagen und glauben: So lange wir ehrlich und mitfühlend um die Wirkungen unseres Denkens und Handelns wissen, bleiben wir mit der Kraft verbunden, die uns mit allen Geschöpfen verbindet, bleiben wir im Herzen weit und sind wir bereit zu Umkehr und Neuanfang.
Unsere Zeit ruft dringlich nach Umkehr und Neuanfang. Wie Jakob Augstein es in seiner Kolumne jüngst beschrieben hat, ist Gleichgültigkeit immer stärker zur Maxime gegenwärtiger Politik geworden. Metanoia, eine die herrschenden Muster überwindende Denkkraft und Sinnlichkeit, ist daher unbedingt nötig im Ringen um eine dem Menschen und allem Lebendigen dienliche Ordnung in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Auf Hiddensee wird immer mal wieder diskutiert, ob Großinvestoren mehr Land und Raum gegeben werden soll oder ob die Schönheit der Insel und die Wirkkraft der Natur Selbstbeschränkung gebieten. Auch an vielen anderen Orten setzen Menschen und Menschengruppen sich ein für den Aufbau von Netzen und Strukturen, die dem Zwang zur Gleichgültigkeit entgegenzuwirken vermögen. Jede und jeder von uns entscheidet in und mit seinem Leben, wieweit des Lebens Gleichgewicht bewahrt werden kann, von dem wir mit den Versen von Detlef Block vorhin gesungen haben.
Natürlich stehen wir in unterschiedlichen Lebenssituationen und vor unterschiedlichen Aufgaben. Nur Sie können spüren, wo es Zeit ist, von Überlegenheitswünschen Abschied zu nehmen oder zu Ihrer Verantwortung zu stehen. Nur Sie können wahrnehmen, welches Leid anzunehmen und durchzustehen ist, welche Blumen gepflanzt, gepflückt oder verschenkt werden wollen. Womöglich ist entscheidend, woran wir uns von Max Nikolaus Niemeier heute haben erinnern lassen, dass auf dem Weg durch unsere Tage unser Herz weit wird und immer weiter. Jeder neue Augenblick gibt uns auf die eine oder andere Weise Gelegenheit, unser Herz noch weiter werden zu lassen.

Zum Abschluss der Friedensdekade 2013

Fürbitten im Gottesdienst am 20.11. in der Johanniskirche Göttingen

Gott, du Kraft allen Lebens.
Wir danken Dir für die Gabe des Lebens, für das Wunder der Verständigung und für alle Möglichkeiten, neu anzufangen.
Wann wird es aufhören, dass Menschen die Gaben des Lebens in Besitz nehmen und sie ängstlich gegen Andere zu behaupten suchen?
Wir sehnen uns danach, dass Menschen die Gaben des Lebens dankbar annehmen und Anderen daran Anteil geben.
Deshalb bitten wir Dich: Stärke alle Gemeinschaften,
in denen Menschen sich finden, um solidarisch füreinander und für Andere einzutreten.
Gib Hoffnung und Ausdauer allen, die bereit sind, ohne Rüstung und Gewalt zu leben.
Gib uns den Mut, zu widersprechen, wo Gewalt und Unterdrückung gerechtfertigt werden.
Hilf uns, immer wieder von neuem die Hand zur Versöhnung auszustrecken.
Gott, du Quelle des Mitgefühls und der Liebe.
Wann wird es aufhören, dass Menschen sich überlegen fühlen wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer Nation und von Anderen Unterordnung verlangen?
Wir sehnen uns danach, dass Menschen sich als Geschwister verstehen mit der gleichen Würde, den gleichen Bedürfnissen.
Deshalb bitten wir Dich für alle, die wegen ihrer Andersartigkeit oder wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen drangsaliert oder gar gefangen gehalten werden,
in der Türkei und an vielen anderen Orten unserer Welt.
Gib uns den Mut, für die Freiheit der Meinung einzutreten
und für das Recht, den Kriegsdienst zu verweigern und Gewaltfrei Widerstand zu leisten.
Stärke die vielen, die in aller Welt Friedensdienst und Entwicklungshilfe leisten.
Gott, du Geist der Kreativität und der Phantasie.
Wann wird es aufhören, dass Menschen Geld, Ruhm und Macht nachjagen, statt in der Gemeinsamkeit und im Teilen von Freude Erfüllung zu finden?
Wir sehnen uns danach, dass Menschen zufrieden werden mit dem, das für ihr Leben reicht, und nach Reichtum trachten in Begegnung und Spiel, in Kunst und spiritueller Erfahrung.
Deshalb bitten wir Dich: Wecke Vernunft und Gewissen der Verantwortlichen in Staaten und Städten, in Behörden und Religionsgemeinschaften,
dass sie den Dienst am Menschen in den Mittelpunkt stellen und Wege bahnen, die zu Achtsamkeit führen im Umgang mit allen Mitgeschöpfen und der ganzen Schöpfung.
Gib uns offene Herzen, damit wir dem Mitgefühl Raum geben und uns daran freuen, mit unserem Leben und Lieben zum Fortgang der Schöpfung beizutragen.
Gemeinsam rufen wir Dich an, wenn wir jetzt singen: Herr, wir bitten, komm und segne uns, lege auf uns Deinen Frieden.
Segnend halte Hände über uns. Rühr uns an mit Deiner Kraft.

 

Tradition oder Erfahrung

Worauf trauen wir im Christentum?
Thesen zum Vortrag in Weingarten im März 2012

1. In der Begegnung mit Jesus und der Erfahrung von Christus eröffnete sich seinerzeit einer Gruppe von Menschen die KRAFT DES LEBENDIGEN, erfuhr sie Befreiung von Minderwertigkeit und Angst, fand sie zu Freiheit und Gemeinschaftlichkeit, entdeckte sie die Gaben des Wissens und des Heilens.
2. Lebendige Gemeinschaft und furchtloses Zeugnis führten auch bei Anderen zur Entdeckung der KRAFT DES LEBENDIGEN und ihrer wundervollen Wirkungen. So vollzog sich zunächst die Ausbreitung des Christentums.
3. Bald kam es zu drei schwerwiegenden Verwechslungen und Entstellungen der wunderbaren Einstiegs-Erfahrung. Zum ersten meinten manche der ersten Christen, was für sie gut sei, sei für alle Menschen gut. Statt Ablehnung durch Andere anzunehmen und zu verstehen, wurden sie ärgerlich und reagierten entsprechend.
4. Eine schwere Last wurde daneben die Annahme, der Glaube an die verallgemeinerte und immer absoluter gefasste Deutung der Christus-Erfahrung führe zu derselben Wirkung wie die eigenständige Begegnung mit der KRAFT DES LEBENDIGEN.
5. In Selbstüberschätzung, nach Außen verlagertem Eifer und zur Vermeidung weiterer Frustrationen nahmen Christen und Kirchenleitungen schließlich die Möglichkeiten wahr, die ihnen das Bündnis mit politischer Macht bot.
6. Die grausamen Folgen dieser drei Entstellungen haben zu unzähligen Menschenopfern geführt und zur Verhärtung des Christentums und vieler Christen beigetragen gegenüber der Erfahrung der KRAFT DES LEBENDIGEN in der Begegnung mit Erde und Natur, im liebevollen Umgang untereinander und im Gewahrsein der Zusammenhänge im Kosmos.
7. Dennoch berührte die KRAFT DES LEBENDIGEN immer wieder vor allem Frauen und auch Männer, denen die Fülle der Möglichkeiten des Lebens offenbar wurde und die sich zu neuen Weisen der spirituellen Erfahrung und des sozialen und wirtschaftlichen Miteinander aufmachten.
8. Als die Kräfte der Vernunft, der neuzeitlichen (Waffen-)
Technik und der wirtschaftlichen Macht es erlaubten, befreite sich menschliches Selbstbewusstsein von den Fesseln christlich-kirchlicher Vorgaben und errichtete die Vorherrschaft wissenschaftlichen Denkens.
9. Dem Streben westlicher, christlich gefärbter und technisch begründeter Wirtschafts- und Militär-Macht nach Weltherrschaft widersetzen sich in unserer Zeit insbesondere Länder und Gruppen, bei denen sich die Erfahrung gesellschaftlicher und persönlicher Unterlegenheit mit verabsolutierter (islamischer) Frömmigkeit und/oder der Behauptung ethnischer Besonderheit verbindet.
10. Während die westlichen Kirchen weithin vor dem Absolutheitsanspruch der herrschenden Wissenschaftlichkeit kapituliert haben und unter Mitgliederschwund und Bedeutungsverlust leiden, wenden sich in den Ländern des Südens Menschen in größerer Zahl charismatischen Bewegungen zu, deren Anhängerinnen und Anhänger wie zur Entstehungszeit des Christentums persönliche Erfahrungen, soziales Miteinander und die Behauptung von Weltgeltung kultivieren. Dabei stehen sie vor denselben Gefahren wie seinerzeit: Verwechslung von Wirkung und Botschaft, Niederlagen bei Missionierungsversuchen und Anlehnung an Mächtige.
11. Den maßlosen Ansprüchen technischer Rationalität und wirtschaftlichen Wachstums sowie den Machtkämpfen zwischen und mit fundamentalistisch beglaubigten Gruppen ist nur mit einer VISION zu begegnen, die jedem Menschen auf diesem Planeten die Möglichkeit zur Verbindung mit der KRAFT DES LEBENDIGEN zuspricht und einräumt.
12. Dazu kann jede und jeder von uns beitragen durch die Absage an jeden Herrschaftsanspruch, durch den Verzicht auf Gewalt zur Durchsetzung eigener Ansprüche und durch die Entwicklung eigener Lebendigkeit und Mächtigkeit, die sich an der Lebendigkeit und Mächtigkeit Anderer freut und jede Weise des Zusammenwirkens im Erleben und Bewahren der Wunder des Lebens in Dankbarkeit und voll Freude und Liebe wahrnimmt.
13. Damit kann jede und jeder von uns BEI SICH SELBST beginnen, gerade die eigenen Ängste, Aufgeregtheiten und Blockaden als Einladung zu Wachstum und Reifung annehmen und nach den Möglichkeiten der Verbindung mit der KRAFT DES LEBENDIGEN greifen, die ihm helfen, sein Wohlgefühl zu erweitern und seine Arbeit und seine Beziehungen beglückender werden zu lassen.
14. Alles, das der Belebung des Einzelnen und seiner Gemeinschaftlichkeit dient, darf aus der Schatztruhe der spirituellen Traditionen der Menschheit entnommen und angeeignet werden, in Achtsamkeit und ohne Angst vor Synkretismus: Körperwahrnehmung und Herzenskontakt, Versenkung und Entwicklung der Feinsinne, außergewöhnliche Bewusstseinszustände und Gipfel-Erfahrungen, Beten, Fasten und Heilen. Der Apostel Paulus hat als hilfreiches Kriterium vorgeschlagen:„Prüfet alles. Das Gute behaltet.“(1.Thess.5,21)
15. Die Geltungsansprüche solcher Wege und ihrer Verkünder sind in Frage zu stellen und zu überprüfen an dem Maßstab, den Jesus von Nazareth an sich und Andere angelegt hat: „ An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen.“ ( Matth.7,16) Die Früchte des GEISTES, die im Neuen Testament genannt werden, dürften sich interkultureller Genießbarkeit erfreuen: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Sanftmut.“
16. Die KRAFT DES LEBENDIGEN durchzieht dieses Universum im Ganzen und gibt auf geheimnisvolle Weise der Evolution des Lebens ihre Impulse. Wo wir uns ihr anzuschließen vermögen, ermöglicht sie uns die einzigartige Erfahrung, als individuelle Menschen am großen Wunder der Schöpfung teil-zunehmen.
17. Trauen Sie sich daher, der Spur dessen zu folgen, das Sie zum Staunen und Fragen bringt im Umgang mit Körper und Natur, mit Kindern und Enkeln, mit Sterbenden und Gestorbenen.
Kennen Sie die Erfahrung aus Mascha Kalekos Gedicht
Sozusagen grundlos vergnügt?
Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen Und dass es regnet, hagelt, friert und schneit. Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit. Wenn Heckenrosen und Holunder blühen…
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn. Ich freue mich vor allem, dass ich bin.
In mir ist alles aufgeräumt und heiter; Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt. An solchem Tag erklettert man die Leiter, Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben, – Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne Und an das Wunder niemals ganz gewöhne. Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu! Ich freu mich, dass ich… Dass ich mich freu.
aus: ‚In meinen Träumen läutet es Sturm’ Deutscher Taschenbuch Verlag, 1977

 

Achtung vor dem Leben

Ungehaltene Rede anlässlich der Demonstration in Wietze am 31. August 2013

Wir stehen hier als Liebhaberinnen und Liebhaber des Lebens, des Lebens, nicht des Todes, nicht des Krieges. Zum Glück, Erde und Himmel seien Dank, gibt es allem Grauen und Drohen zum Trotz immer noch und immer wieder Gelegenheiten, bei denen wir spüren, wie schön, wie kostbar, wie herrlich Leben ist und sein kann – und für alle sein sollte. Manchmal reicht es, tief durchzuatmen um das Geheimnis und das Wunder des Lebens wahrzunehmen. Leben, so lassen sich uralte und neueste Kenntnisse zusammenfassen, Leben auf dieser Erde ist ein kosmisches Wunder. Es brauchte ein nahezu unglaubliches Zusammenspiel über Jahrmillionen, bis Leben auf dieser Erde sich entwickeln konnte. Anders als Neo-Darwinisten vom Schlage eines Richard Dawkins uns glauben machen wollen, ist Leben das Staunenswerte Ergebnis von Kooperation, nicht von Konkurrenz. Bei der Entwicklung und Entfaltung menschlichen Lebens ist die Zusammenarbeit von Pflanzenwelt und Tierwelt, von Erde und Kosmos die Grundlegende Voraussetzung gewesen. Keine Sorge, ich werde die Geschichte der irdischen Evolution hier nicht weiter vertiefen. Entscheidend ist, dass möglichst viele verstehen und beherzigen, dass Leben nur in einem Netz gedeiht, in dem alles mit allem verbunden ist und sich aufeinander einstellt.
Die Naturvölker der Menschheit, die es verdienen, Kulturvölker genannt zu werden statt Primitive, die Naturvölker haben diesen Zusammenhang alles Lebendigen gespürt und ausgedrückt und beachtet, von Urzeiten an. Und sie tun das bis heute, soweit Abendländischer Überlegenheitswahn sie hat überleben lassen. Als vorbildlich nenne ich nur die Weisheit der Indianer, das eigene Handeln daran zu orientieren, dass die Nachkommenden noch sieben Generationen später unbeschadet bleiben. In solcher Lebensverbundenheit war es den Naturvölkern selbstverständlich, Tiere nur zu töten, um das eigene Überleben zu sichern. Dafür wurden die umfassenden Lebenskräfte um Erlaubnis gebeten und die die Seele des Tieres um Nachsicht. Solche Achtung gegenüber dem Leben, gegenüber Pflanzenwelt und Tierwelt hat sich in unseren Regionen bis in die Zeit kleinbäuerlicher Kultur erhalten. Dann haben Mechanisierung und Industrialisierung den natürlichen Zusammenhang zerrissen und Größe und Profit zu den weithin angebeteten Götzen gemacht, denen menschliches Mitgefühl und tierisches Leben gleichermaßen geopfert werden. Die hoch subventionierte Entwicklung von Massentierhaltung und von Massenvernichtungswaffen ist das bedrückende Ergebnis von Profitorientierter, struktureller Gleichgültigkeit. Hans Peter Dürr hat mit guten Gründen die westlichen Industriegesellschaften Gesellschaften von Sklavenhaltern genannt. Die Meisten auch von uns halten sich für ihr persönliches Wohlergehen Hunderte von Energiesklaven und geraten dabei in Gefahr, den engen, gefühlten Kontakt zu Natur und Mitmenschen zu verlieren.
Doch, wie Hölderlin gesagt hat: „ Wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch.“ Was tastend und irrbar als Bewegung zur Lebensreform im vorigen Jahrhundert begann, hat sich mit der Wende zum neuen Jahrtausend zu einem starken Netz entwickelt, in dem die Überzeugungen und Anstrengungen vielfältig Engagierter sich verbinden, die aktiv sind in der bäuerlichen Landwirtschaft, im Umweltschutz, im Einsatz für eine Energiewende, im Widerstand gegen Massentierhaltung und gegen die Bedrohungen der Lebensmittelindustrie.
Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass zahlreiche junge Menschen sich für einen glaubwürdig gelebten vegetarischen Lebensstil entscheiden, wie er in manchen Strömungen der asiatischen Kulturen seit Jahrtausenden geübt wird, mit wohltuenden Auswirkungen auf Gesundheit, Lebensfreude und Spiritualität.
Immer mehr Menschen verstehen, dass der übermäßige Fleischgenuss, der in westlich geprägten Gesellschaften üblich geworden ist, riesige Weide- und Anbauflächen in den Ländern Südamerikas braucht, die der einheimischen Bevölkerung für den lokalen Anbau von Grundnahrungsmitteln fehlen. Solche Flächen werden darüber hinaus durch Rodungen im Regenwald Amazoniens geschaffen, der die grüne Lunge unserer Erde darstellt und für das Überleben der Menschheit unverzichtbar ist. Solche Einsichten drängen auf Umsetzung, im persönlichen Verhalten, in gesellschaftlichem Engagement und in Wegweisenden Aktionen. Recht verstanden beginnt Veränderung zum Besseren immer zunächst bei mir persönlich und setzt sich dann fort im gemeinsamen Einsatz von vielen.
Deshalb sind wir heute hier zusammengekommen. Wir stehen zusammen und setzen uns ein für eine Wende zum Leben, im Umgang mit der Natur und zum Schutz der Pflanzenwelt und der Tierwelt in ihrer unüberbietbaren Mannigfaltigkeit. Ebenso entschlossen stehen wir zusammen und setzen wir uns ein für das Lebensrecht aller Menschen und Menschengruppen auf dieser gequälten Erde. Der Einsatz für das Leben ist unteilbar. Er reicht von Wietze nach Syrien und geht weit darüber hinaus. Ehrfurcht vor dem Leben, um zuletzt die altmodisch klingende und doch hoch aktuelle Maxime Albert Schweizers zu nennen, Achtung vor dem Leben ist die Grundlage und Leitlinie für ein Freudvolles und solidarisches Leben. Dafür wollen wir uns jetzt die Hände reichen jetzt und später noch einmal, wenn wir den größten Schlachthof Europas umzingelt haben. Wir wollen als Menschen zusammenstehen und gemeinsam einstehen für Frieden zwischen den Menschen und im Einklang mit Tierwelt und Natur!

Hinweise und Dank
– Bernd Winkelmann verdanke ich das Kennenlernen der AKADEMIE FÜR SOLIDARISCHE ÖKONOMIE und ihrer wichtigen Veröffentlichungen. Als langjähriger Leiter der Familienerholungs- und Begegnungsstätte der Ev. Kirche Mitteldeutschland auf Burg Bodenstein lud er mich ein, zwei Freizeiten auf der Burg zu begleiten und Gottesdienste zu halten.
– Ralf Reuter, Gemeindepfarrer der hiesigen Gemeinde, bat mich, zum 200-jährigen Jubiläum des Erscheinens der Hausmärchen der Gebrüder Grimm die Predigt zum Froschkönig vorzustellen. Petra Supparitsch aus Frankfurt vermittelte mir Anregungen, die ich bei der Überarbeitung der ursprünglichen Fassung verwenden konnte.
– Jana Leistner, Mitarbeiterin im Heimatmuseum Hiddensee, bahnte die Wege für Ankauf und Übernahme eines von mir erworbenen Gemäldes meines Großvaters. Aus diesem Anlass überließ mir der Ortspfarrer, Dr. Konrad Glöckner,die Kanzel für eine Würdigung von Werk und Persönlichkeit von M.N.Niemeier.
– Christine Reh, die unermüdliche Geschäftsführerin der hiesigen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, regte meine Mitarbeit im Göttinger Ökumenischen Arbeitskreis Frieden an. Im Rahmen der Friedensdekade 2013 unter dem Motto „Solidarisch?“
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sprach ich über „Solidarisch im Alltag. Wie jeder zum Frieden beitragen kann“ und beteiligte mich am Abschlussgottesdienst.
– Helga Bayha, die mich im NACHTCAFE des Südwestfunks sah, vermittelte den Kontakt zu Professor Joachim Kunstmann an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, der mir Gelegenheit gab, über „Tradition oder Erfahrung“ zu sprechen und die Zuhörer zu einer persönlichen Tiefen-Erfahrung anzuleiten.
– Den Mitgliedern der Göttinger ATTAC-Gruppe verdanke ich die Hinweise auf wichtige Kundgebungen und Demonstrationen.

Über Rückmeldungen freue ich mich:
ulrich-kusche@t-online.de

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