Imaginationsbegleitung

Bilder der Seele als Quelle der Kraft
Vortrag Frankfurt am 3. Mai 2008
Eine schwer überanstrengte Lehrerin sieht in einer Halle voll schwerer Säcke einen Esel. Von der Imaginandin angesprochen geht der Esel in die Knie, schafft ihr ein Lager. Sie legt sich auf den Bauch des Esels und schläft ein, schläft lange und tief. Als sie erwacht, sieht sie die Sonne, schafft es aber nicht, sich zu erheben. Da bittet sie ihre Verbündeten um Hilfe. Die Verbündeten kommen mit einer Sänfte und tragen sie nach draußen. In einem herrlichen Garten findet ein Fest zu ihren Ehren statt. Reife Aprikosenbäume schenken ihr Früchte, sie darf auch selbst ernten. Der Wind streichelt sie. Am Ende findet sie sich mit ihren Verbündeten in einem Lichtkreis, dessen Kraft sie als tiefe Seligkeit erlebt…
Einen jungen Mann mit Unsicherheit über seinen weiteren Weg frage ich, ob er irgendwo im Körper seine Kraft spürt. Ja, antwortet er und schließt dabei ganz von selbst seine Augen. Da ist ein grüner Kern im Bauch, so groß wie ein Apfel. Der will raus, sagt er, will sich in den Körper ergießen. Doch eine graue, unendlich große Masse umgibt ihn, verhindert das Austreten der Energie. Schließlich findet er in der Mitte dieser Masse ein Loch. Und als er sich hindurch bewegen kann, öffnet sich eine helle schöne Landschaft. Er steht an einer Weg-Gabelung. Er nimmt einen der beiden möglichen Wege, kommt auf einen Berg. Als er sich dort allein fühlt, schaut er nach Hilfe aus. Da kommt ein großer Vogel. Der trägt ihn über Felder und Wälder, setzt ihn schließlich an einem Aussichtsturm ab. Sie verabreden sich zu einem Wiedersehen. Der große Vogel hinterlässt dem jungen Mann eine Feder, die er sich ins Haar steckt.

Zwei Beispiele für die kräftigende Wirkung innerer Bilder. Die wundersame Begegnung mit dem inneren Esel stammt von einer Frau, die schon mehrfach imaginiert hat, der stärkende Vogelflug ereignete sich im zweiten Beratungsgespräch. Das Kommen-Lassen innerer Bilder, Vision und Imagination sind uralte Weisen, Zugang zu finden zu den Tiefenschichten des Einzelnen, zu den Ebenen, aus denen die Kräfte und Möglichkeiten des Mensch-Seins, ja des Lebens überhaupt herrühren.

Wie der Traum dient die unverhoffte oder die gesuchte Vision in allen schamanischen Traditionen der Wegweisung für das eigene Leben oder für die Heilung des Anderen. Der erstaunliche Bericht von Malidoma Somé (1) über seine Initiation in die Tradition der westafrikanischen Dagara macht deutlich, dass schamanische Erfahrungen bis in unsere Zeit hinein von urtümlicher Kraft sind. Lange mühte sich der schon etwas ältere Malidoma vergeblich, mehr zu sehen als den Baum, vor den ihn die Ältesten gesetzt hatten. Erst am zweiten Morgen verwandelt sich ihm unerwartet der Baum in die grüne Göttin, die ihn an sich zieht und überwältigt. Am Ende findet er sich festgekrallt am Stamm des Baums, dessen Geheimnis ihm über viele Stunden verborgen geblieben war. Auch in den unterschiedlichen religiösen Überlieferungen unserer Erde ist die Erwartung himmlischer Zeichen und Bilder in meditativen Übungen verschiedenster Art lebendig geblieben. Oft beginnt mit ihnen ein Schritt zu mehr Ganzheit und Heilung, der unabhängig von der Unterschiedlichkeit der Bilder und ihrer Interpretationen in verblüffend ähnlicher Weise und Intensität geschieht.

In der modernen Seelenkunde hat Sigmund Freud in Aufnahme von Anregungen seiner Vorläufer die Bedeutung des Traums hervorgehoben. Carl Gustav Jung vor allem hat der aktiven Imagination den Weg bereitet. In der Aufnahme theoretischer Einsichten Viktor Frankl`s in die Macht des unbewussten Geistes hat Uwe Böschemeyer die Praxis der Wertorientierten Imagination entwickelt. (2)
Zeitlich voraus liegen die Entdeckungen Hans-Carl Leuners (3) mit dem Katathymen Bilderleben und die Anregungen von Klaus Lange zur Zwiesprache mit dem eigenen Herzen und jedem inneren Gefühl. (4)
O.Carl Simonton (5) hat imaginative Verfahren in die Arbeit mit Krebskranken eingeführt, Luise Reddemann (6) die Imagination als besonders wirkungsvolles Hilfsmittel in der Arbeit mit schwer Traumatisierten, insbesondere Frauen, auch klinisch etabliert.
Im NLP, in der Selbsterfahrung mit so genannten Phantasiereisen, in den von Brandon Bays entwickelten Prozessen (7) werden selbst für Kinder imaginative Verfahren zur Auflösung unbewusster oder verdrängter Konflikte und zu größerer Bewusstheit im Umgang mit Gefühlen eingesetzt, doch in höchst unterschiedlicher Weise. Mit dem Mentaltraining wird die Kraft imaginativer Verfahren für Sportler erschlossen und mit dem Power-Coaching und ähnlichen Methoden für wirtschaftliche Führungskräfte.

Wem an der Selbst-Bestimmung und einzigartigen Individualität der anvertrauten Menschen liegt, wird schematische Vorgaben und Lösungsvorschläge seitens des Therapeuten allerdings möglichst vermeiden und es den inneren Kräften des Klienten überlassen, welche Konflikte gerade dran und welche Lösungen jeweils erreichbar sind. Dass im eigenen Inneren, in Tiefenschichten des Bewusstseins, in der Seele, ungeahnte Kräfte und überraschende Lösungsmöglichkeiten bereit liegen, ist die erste und den genannten Methoden gemeinsame Erfahrung beim Zulassen innerer Bilder. Häufig hat schon diese Entdeckung befreiende Wirkung. Uwe Böschemeyer, in dessen Wert-Imagination ich ausgebildet bin und von deren Erfahrungen her ich ganz unmittelbar sprechen kann, kennzeichnet das rettende Potential, das einer jeden Menschenseele inne wohnt, mit dem Titel seines Grundlegenden Buches: UNSERE TIEFE IST HELL. In unserer Tiefe ist es hell. Das bedeutet in tröstender und zugleich herausfordernder Weise: Jeder von uns ist mehr als sein Problem, sein Defizit oder seine Erkrankung. In diesem Mehr liegen Auswege und neue Aufgaben, liegen Rettung und Heilung verborgen. Um dieser verheißungsvollen Botschaft gerecht zu werden, gilt es, mit inneren Bilderfahrungen achtsam und verantwortlich umzugehen.

Lassen Sie mich Ihnen die unterschiedlichen Weisen des Umgangs mit dem inneren Potential anhand dieses Überblicks von Professor Armin Pfau veranschaulichen. Unter dem Gesichts-Punkt der Kontrolle sind die Übergänge vom Traum zur Vision und zur Suggestion, wie ich finde, einleuchtend dargestellt.

Außer im Klartraum, beim so genannten luziden Träumen, treten mit dem Traum kaum beeinflussbare Bilder in unser Bewusstsein. Je nachdem berühren oder erschrecken die Traumbilder, je nachdem lassen sich die Trauminhalte in ihrer existentiellen Bedeutung für den Träumenden unmittelbar erschließen oder bleiben sie rätselhaft, kehren bedrohlich wieder oder bewahren sie lange ihren verlockenden Reiz.
Unerklärt gebliebene Traumelemente eignen sich wie jedes andere Thema hervorragend für die Bearbeitung durch Imagination. Im Zustand möglichst tiefer Entspannung, in leichter Trance und bei klarem Wachbewusstsein können wir innere Bilder aus den Tiefen des Unbewussten auftauchen lassen und aus der unendlichen Weite des Überbewussten heran holen. Professor Pfau hat das hier treffend beschrieben: Die tiefe, authentische Imagination geschieht im bewussten Annehmen der aus dem Unbewussten auftauchenden Botschaften. Diese bieten die Chance und die Herausforderung zu persönlicher Stellungnahme und zielen auf Umsetzung im eigenen Leben.
Natürlich lassen sich auch bewusste Vorsätze des Einzelnen oder eines Begleiters in Bilder kleiden, die dann den tieferen Schichten des Gesamtbewusstseins angeboten werden. So genannte geführte Imaginationen, begleitete oder imitierte Phantasiereisen, die suggestiven Verfahren bis hin zur Selbst- und Fremd-Hypnose ereignen sich in diesem Bereich bewusst kontrollierter Erfahrungen. (8)

Die Wirksamkeit der inneren Bilder oder suggestiven Vorstellungen hängt allerdings entscheidend davon ab, wieweit sie die tiefen Gefühle des oder der Betreffenden erreichen und verwandeln. Hier stimmen die Einsichten von Uwe Böschemeyer überein mit den Erkenntnissen anderer Therapeuten und wahrscheinlich auch mit Ihren eigenen Erfahrungen. So erklärt sich mir auch die immer wieder erlebte Wirkungslosigkeit des so weit gerühmten Positiven Denkens. Problematische Erinnerungen sind in aller Regel mit tiefen Gefühlen verbunden. Wenn positive Gegen-Sätze auf der Ebene des bewussten Wünschens bleiben oder gar mit heimlichen Zweifeln verbunden sind, behalten die tiefer liegenden Gefühle des Verletzt-Seins oder der Minderwertigkeit ungebrochen ihre Kraft.

Die Botschaften der Tiefenschichten menschlichen Bewusstseins erscheinen als Bilder, die häufig ganz plastisch und mit allen Sinnen erfahrbar sind. Die Sonne wärmt die Haut, die Brandung der aufgewühlten See ist hörbar, der Duft der Lilien ist betörend und Berührungen gehen ganz tief ins Herz. So sehr sich die Motive gleichen, die wir auch aus den Märchen und den mythischen Erzählungen der Weltkulturen kennen, etwa der Garten und der hohe Berg, die goldene Kutsche und das Königsschloss, die lichte Gestalt und der alte Weise, ihre Ausgestaltung ist höchst individuell. Je mehr die innere Kraft sich in einem ganz persönlich gestalteten Bild ausdrückt, umso direkter kann der Kontakt werden zwischen Bewusstem und Unbewusstem, umso größer wird die Chance zur Verwandlung der tiefen Gefühle. Deshalb ist es meiner Erfahrung nach so wichtig, bei angebotenen Bildern in Meditation und Begleitung Freiheit und Raum zu lassen zur individuellen Annahme und Ausgestaltung, ja sogar zur Umgestaltung durch jeden Einzelnen. Das gilt nach meiner Überzeugung auch für in der Ausbildung verwendete Imaginationen. Das gilt insbesondere auch für die Schritte in Prozessen des NLP oder der Journey-Arbeit. Es gibt kein für alle in gleicher Weise gültiges und daher übernehmbares Schema innerer Entwicklung. Jeder und jede geht gerade bei der Lösung schwerer Konflikte ihren und seinen ganz eigenen Weg. Deshalb kommt es sehr viel weniger als Manche meinen auf den erfolgreichen Durchgang durch bestimmte vorgegebene Prozess-Schritte an. Das untrügliche Anzeichen echter Erfahrung und innerer Wandlung ist vielmehr der befreite, der erlöste Ausdruck auf dem Gesicht und in den Augen des Imaginanden, der sich auch in einer deutlich veränderten Körperhaltung spiegelt.

In diesem Sinne ist Imagination ein universaler, ein für alle Themen geeigneter Weg der Erkenntnis und zugleich der Ermächtigung zu verändertem Denken und Handeln. In einem Punkt hat die Wert-Imagination von Uwe Böschemeyer zu einer wesentlichen Erweiterung und Bereicherung der imaginativen Arbeit geführt. Alle spezifisch menschlichen Qualitäten sind mit ihrem befreienden und verwandelnden Potential in der Tiefe des menschlichen Bewusstseins erreichbar, Vertrauen und Freude, Kreativität und Heilwissen. Das ist die alte, uralte Erfahrung. Wenn wir es zulassen und nötigenfalls gezielt danach Ausschau halten, dass uns diese wertvollen Eigenschaften als Gestalten erscheinen, fällt es uns als Menschen leichter, mit den von ihnen repräsentierten Kräften in Kontakt und Austausch zu treten. Als Menschen erfahren wir Verbindungen eben gerade besonders intensiv, wenn wir uns an den Händen fassen lassen, wenn wir uns anlehnen und in die Augen sehen dürfen.

Unvergesslich ist mir die erste von mir begleitete Imagination. Die mir schon länger bekannte Frau, damals 44 Jahre alt, war zunächst von schweren Zwängen, später von Exzessen geplagt. Auf ihr Drängen hin wagte ich mit ihr einen vorsichtigen Versuch. Als ich sie nach einer kurzen Hinführung zur Entspannung fragte, in welcher Landschaft sie sich befinde, sagte sie nach einem Moment der Stille ganz verwundert:
Das ist ja wie in der Toskana. Da sind Pinien. Es ist angenehm warm. Eine schöne Landschaft, aber irgendwie tot. Kein Mensch ist zu sehen.
Lassen Sie sich Zeit, sage ich. Blicken Sie um sich, schauen Sie an den Horizont.
Da ist keiner, nur etwas dunkles Schwarzes. Eine dunkle Gestalt, mit schwarzer Kutte und schwarzer Kapuze.
Ach du lieber Himmel, erschrecke ich. Gleich als erstes trifft sie auf ihre Angst. Ob wir das jetzt schon schaffen? Ich höre mich rasch sagen: Lassen Sie die Gestalt zunächst da, wo sie ist. Was sehen Sie sonst? Die Imaginandin antwortet offenbar ohne Beunruhigung:
Ich sehe ein altes Haus, aber ganz schön, mit einem großen alten Garten. Um das Grundstück herum ist eine Mauer. Die Hautür ist angelehnt.
Eine kleine Katze, die sie streichelt, obwohl sie Katzen sonst nicht mag, hilft ihr, das Haus zu betreten. Nach längerer Erkundung in beiden Stockwerken fällt ihr im Eingangsflur ein großer Spiegel auf. Als ich sie bitte, in die Mitte dieses Spiegels zu schauen, sagt sie:
Ich sehe eine junge Frau in einem lockeren Kleid. Und dann ganz überrascht: Das bin ja ich, aber ganz verändert, mit langen Haaren. Ganz nett sehe ich eigentlich aus. Die Augen sind groß und klar. Ich bin ganz ruhig und gelassen.
Nachdem sie sich noch etwas mehr mit dieser jungen Frau im Spiegel vertraut gemacht hat, frage ich sie, was wohl nun geschehen möchte. Ganz freudig sagt die Imaginandin:
Die tritt ja aus dem Spiegel heraus und nimmt mich an die Hand.
Die junge Frau geht mit der Imaginandin ans Meer. Sie setzen sich am Ufer nebeneinander auf Steine, ihre Oberschenkel berühren sich. Sie blicken auf die unruhigen Wellen, in denen doch eine tiefe Harmonie schwingt. So jedenfalls erfährt die Imaginandin es aus der gemeinsamen Wahrnehmung. Von da kommt viel Energie und Kraft, sagt sie.
In der jungen Frau erkennt sie nach einer Zeit die Kraft des Lebens und der Lebensbejahung. Als sie sich verabschieden, bekommt sie ein Geschenk, einen Stab mit einem kleinen Stern an der Spitze. Dieser Stab wird ihr in der Folge im Alltag immer dann gute Dienste tun, wenn sie sich unsicher fühlt und schwach.
Dieser Klientin mit auch somatischen Beschwerden und einem traumatischen Hintergrund ist ihre junge Frau, die Repäsentantin der Lebensbejahung, die Uwe Böschemeyer Verbündete nennt, seither nahe geblieben. Nach einer längeren Zeit eigenständigen Weitergehens mit nur gelegentlichen Imaginationen, in der sie innere Fortschritte und unter bestimmten Umständen die Wiederkehr ihrer Ängste erlebte, zeigte sie kürzlich Interesse, zu einer begleiteten Begegnung mit der dunklen Gestalt aufzubrechen, der Gestalt, die sie damals als erste wahrnahm, der Gestalt mit der schwarzen Kutte und der schwarzen Kapuze.
In ungezählten Imaginationen haben Menschen erfahren, dass auch die Begegnung mit den dunklen Gestalten gewagt werden kann, wenn die Imaginanden darauf vertrauen, dass auch die Gestalten aus dem Schattenreich eine wichtige Botschaft für sie haben. Dieses Vertrauen zu wagen und durchzuhalten, dazu hilft geängstigten Klienten, wenn sie unmittelbar von einer Wertgestalt, dem oder der Verbündeten, von ihren Indianern oder ihren inneren Heilern begleitet werden. Deshalb rät Uwe Böschemeyer grundsätzlich, in der Imaginationsarbeit zunächst den Kontakt zu den hilfreichen Gestalten aufzubauen. Auf den schwierigsten Wegabschnitten der inneren Reise sind dann technische Hilfsmittel ebenso entbehrlich wie von außen, vom Therapeuten kommende Interventionen. Anders als der beste Therapeut wissen die inneren Begleiter immer um die passende Lösung.

Ja, es kann vorkommen, dass eine innere Gestalt verschattet ist, nur eingeschränkt über ihre typischen Ressourcen verfügt. Dann hat die Angst des Imaginanden auf die Wertgestalt einen Schatten geworfen und es ist nötig, der Wertgestalt selbst erst wieder zu ihrer vollen Kraft zu verhelfen. Oft ist dafür die andersgeschlechtliche Gestalt derselben Kraft besonders hilfreich. Häufig finden wir leichter Kontakt zu dem Geschlecht, das uns auch im vorangegangenen Leben in der jeweils spezifischen Qualität gestärkt hat und Vorbild gewesen ist.

Eine Einsicht aus der Praxis der Wert-Imagination ist auch von großer philosophischer Bedeutung und sie mag Auswirkungen haben auf unser Selbstverständnis und unseren Umgang mit den sich uns anvertrauenden Menschen. Wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, womit wir es bei den Kräften aus der Tiefe und aus der Höhe zu tun haben, und uns auf der Suche nach Antwort imaginativ auf den Weg begeben zur Heimat der Wertgestalten, dann zeigen sich unabhängig von der weltanschaulichen Sicht und dem persönlichen Bekenntnis der Imaginanden regelmäßig tief religiöse Bilder:
Zutiefst Verunsicherte finden sich in einem sie unbedingt tragenden Netz, schwer Geängstigte fühlen sich wunderbar aufgehoben in der einen großen Hand. Große Engel berühren ein Herz, von einem gewaltigen Thron gehen himmlisch tönende Klänge aus sowie ein einhüllender, unendlich starker Strom der Liebe. Und immer ist es das starke, warme Licht, das in den Wertgestalten aufscheint und sie umgibt, das den Kosmos erfüllt und das ganze All. Hier wird sie spürbar, die Quelle allen Wissens und aller Weisheit, aller Gnade, allen Heils. Aus solch tiefer Erfahrung mit den Leuchtspuren Gottes, um den Titel von Uwe Böschemeyers jüngstem Buch aufzunehmen, erwachsen in höchst intensiver Weise neues Vertrauen und ungewohnter Mut.

Was können in der Heilungsarbeit Tätige aus den Erfahrungen der Wert-Imagination für sich übernehmen, auch wenn sie keine weitere Ausbildung beginnen möchten?
Die Möglichkeiten sind mannigfach, lassen sich von jedem Interessierten behutsam ausprobieren und entwickeln. In heilender Begleitung Tätige können sich zum Beispiel vor der verabredeten Sitzung im inneren Schauen den anvertrauten Menschen kommen lassen und seine Hände, seine Augen, sein Herz auf sich wirken lassen. Wenn es noch Genaueres wahrzunehmen gilt, kann es sehr Aufschlussreich sein, auf die Klientin, den Klienten durch die Augen des eigenen inneren Heilers oder Therapeuten zu sehen.
Bei Belastungen in der Beziehung können Therapeuten in den Zwischenraum schauen zwischen sich und dem Klienten. Sie können die Klientin auch bitten, sich eine Gestalt kommen zu lassen, die für das noch unverstandene Problem oder für ein betroffenes Organ steht. Auf diese Weise kann es noch zu einer ganz anderen Weise der Organsprache kommen als Horst Krohne sie entwickelt und veröffentlicht hat. (9)
Bei alledem ist nach meiner Erfahrung entscheidender als praktische Raffinesse das tiefe Vertrauen des Begleiters in die im Inneren des Begleiteten wartende Weisheit, die tiefer gründet als im Unbewussten des Einzelnen. Der aus der Tschechoslowakei stammende Psychiater und spätere Mitbegründer der Transpersonalen Psychologie, Stanislav Grof, hat sich in seiner Jahrzehnte währenden Arbeit mit Menschen, teils unter der dosierten Gabe von LSD, teils unter Einsatz des holotropen Atmens, von den grenzenlosen Zugangsmöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins überzeugt. Seine Erfahrungen, die er jüngst noch einmal zusammengefasst hat, bestätigen die Einsichten imaginativer Arbeit. (10)

Eine kurze Imaginationssequenz mag diese Einsichten veranschaulichen. Mit diesem Imaginationsbericht schließt sich der Kreis, den ich gerade abgeschritten habe. Denn diese Imagination erlebte die schwer überanstrengte Lehrerin vier Wochen nach der eingangs beschriebenen Imagination mit dem Esel und dem stärkenden Festmahl. Sie hatte inzwischen Veränderungen an ihrem Arbeitsplatz sowohl durchsetzen als auch annehmen können.
In der unbegleiteten Imagination in einer kleinen Gruppe sieht sie viele, viele Schafe in einer archaischen Landschaft und einen Hirten von eindrucksvoller Gestalt. Als sie den Hirten lange bestaunt hat, dann näher zu ihm getreten ist, nimmt sie seinen Stab ganz deutlich wahr. Mit einem Mal wird dieser Stab von ihrem Körper aufgenommen. Ein ganz starkes Gefühl von Gehaltensein und Wohlgefühl durchströmt die Imaginandin. Als himmlisches Gefühl beschreibt sie dieses in ihrem Bericht in der Gruppe, nachdem sie die Imagination aufgeschrieben hat. Sie fährt fort:
Dann wird es Nacht. Die Sterne funkeln wie in einem Zauber. Die Schafe schlafen. Der große Hirte besteigt die Himmelsleiter. Er fährt zum Himmel und ist zugleich auf der Erde. Im Nachthimmel fliegen Engel, die mir zulächeln. Mit einem Mal wird der Stab des Hirten Riesengroß. Er reicht bis in den Himmel. Und als ich näher hinsehe, entdecke ich, dass der Stab die Erdkugel hält, die sich um ihn dreht. Ich sehe verschiedene Kontinente und überall Schafe. Ich fühle mich dem Hirten intensiv verbunden. Ich spüre ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat. In seiner Nähe bin ich zu Hause.

Womöglich ist die Sprache der inneren Bilder die einzige, die Angehörigen verschiedenster Religionen, Kulturen und Therapierichtungen erlaubt, über ihre Traditionen und Erfahrungen wirklich ins Gespräch zu kommen und sich auf gemeinsame Schritte zu verständigen in unserer oft so zerrissenen Welt. Verheißungsvolle Perspektiven könnten sich eröffnen!

Literatur:
(1) Malidoma Patrice Somé, Vom Geist Afrikas. Das Leben eines afrikanischen Schamanen, Diederichs
(2) Uwe Böschemeyer, Unsere Tiefe ist hell. Wertimagination- ein Schlüssel zur inneren Welt, Kösel 2005
Uwe Böschemeyer, Gottesleuchten. Begegnungen mit dem unbewussten Gott in unserer Seele, Kösel 2007
(3) Hans Carl Leuner / Eberhard Wilke, Katathym-Imaginative Psychotherapie, Stuttgart 2004
(4) Klaus Lange, Herz was sagst du mir? Selbstvertrauen durch innere Erfahrungen, Kreuz 2001
Klaus Lange, Wie du denkst, so lebst du. Konflikte lösen durch innere Erfahrungen, Kreuz 2000
(5) O. Carl Simonton, Wieder gesund werden. Eine Anleitung zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte für
Krebspatienten und ihre Angehörigen, Rowohlt 2007
Jeanne Achterberg, Gedanken heilen. Die Kraft der Imagination. Grundlagen einer neuen Medizin, Rowohlt
2004
(6) Luise Reddemann, Psychodynamisch-Imaginative Traumatherapie, Klett 2007
(7) Brandon Bays, The Journey. Der Highway zur Seele, Ullstein 2004
Brandon Bays, The Journey for Kids. Befreiung von Ängsten und traumatischen Erinnerungen, Koha 2005
(8) Armin Pfau: www.psychoanalyse-laienforum.de/SonderV_Innere_Bilder_Fenster_zur_Seele….
(9) Horst Krohne, Organsprache-Therapie. Neue Methoden der Geistheilung, Ansata 2006
(10)Stanislav Grof, Impossible – Wenn Unglaubliches passiert. Das Abenteuer außergewöhnlicher
Bewusstseinserfahrungen, Kösel 2008

© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen