Unser Herz schulen

Predigt am 1. Juni 2019 in Neuendorf auf Hiddensee

Die Sonntage des Kirchenjahres geben uns jedes Jahr wieder die Gelegenheit, die Lebensgeschichte Jesu nachzuvollziehen. Solcher Rückblick kann hilfreich sein. Wenn wir in eigener Bedrängnis die Geschichte von der Sturmstillung hören, mögen wir neuen Mut fassen. Und werdende Mütter erleben die Texte der Advents- und Weihnachtszeit wohl ganz anders als alle anderen. Doch manchmal kann dieser geschichtliche Rückbezug auch eine gehörige Zumutung sein.

Wir sind gerade in der Zeit zwischen Karfreitag und Pfingstsonntag. Das war damals die schwere Zeit zwischen Abschied und Neubeginn. Jesus ist seinen Jüngern und Anhängerinnen abrupt genommen worden. Der, der ihr Leben erhellt hat und von dem sie die Rettung der ganzen Welt erwarteten, ist als potentieller Aufrührer vorsorglich hingerichtet worden. Was würde nun kommen? Was würde bleiben? Solche Fragen quälten die Zurückgebliebenen. Und wir mögen solche Fragen auch kennen. Auf solche Fragen lässt Johannes Jesus selbst antworten. Doch was ist das für eine merkwürdig distanzierte Rede?

Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn ein Tröster wird an meiner Stelle kommen. Und der wird der Welt die Augen auftun über die Sünde und die Gerechtigkeit und das Gericht…Jesus ist beim Vater, der Fürst dieser Welt gerichtet. (Johannes 16,5-11)

Was sollen bangenden Seelen solche Lehrwahrheiten, solche dogmatischen Sätze über die angeblich wahren Verhältnisse im Himmel und auf Erden? Unsere Verwunderung, unser Unmut womöglich kann abklingen, wenn wir beachten, dass diese angeblichen Trostworte des Johannes-Evangeliums nicht 80 oder 90 Tage nach dem Tod Jesu geschrieben wurden, sondern 80 oder 90 Jahre später. Längst ist die tatsächlich geschehene Wiederbesinnung auf die Gültigkeit der Lebensweise Jesu Geschichte. Das Schauen auf die Lilien, das Staunen über die jeden Morgen bedingungslos aufgehende Sonne, diese belebenden Erfahrungen der ersten Christen haben sich inzwischen zu Glaubenswahrheiten verwandelt. Der Lebensmut der kleinen Gemeinden ist noch hier und da am Wirken, vor allem im weit entfernten Osten. Doch in den etablierten Gemeinden Kleinasiens und Ägyptens hat eine sich immer stärker ausbildende Hierarchie die Kontrolle übernommen. Absolutheitsansprüche werden behauptet. Die Andersdenkenden wie die Juden werden als vom Teufel erklärt. Das ist der Beginn des über Jahrhunderte gelehrten und christlichen Antijudaismus mit seinen mörderischen Folgen. Mit ihm und ohne ihn hat er entsetzlich gewütet, der Kampf zwischen dem angeblich Guten und dem angeblich Bösen, der in unzähligen Religionskriegen unendliches Leid über Menschen gebracht hat und bis heute fortgesetzt wird.

Der Atomwissenschaftler und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal sinngemäß geschrieben: In ihren Lehrsätzen, in ihrer Dogmatik sind die unterschiedlichen Religionen unvereinbar; in ihren Handlungsanweisungen, in ihrer Ethik sind sie einander ähnlich. In ihrer Mystik, ihrem innersten Empfinden sind sie sich allen Unterschieden zum Trotz ganz einig.

Deshalb ist es für mich erfreulich, dass sich unter den 6 Texten für einen jeden Sonntag meist wenigstens einer findet, der angemessen und fürs Leben brauchbar ist. Der alttestamentliche Text dieses Sonntags wirkt für mich wie ein echter Trost, wie eine hilfreiche Verheißung für die heute erinnerte Zwischenzeit zwischen Verlust und Weiterleben.

Das ist der neue Bund, spricht Gott, den ich schließen will mit den Menschen. Ich will mein Gebot in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben…Es wird keiner den anderen belehren und sagen „Erkenne Gott!“, sondern alle sollen mich erkennen, Kleine wie Große. (Jeremia 31,31+32)

In ihren Herzen haben die Freunde Jesu damals schließlich gespürt, dass es Sinn macht, an der Hoffnung festzuhalten, die Jesus getragen hat. Mit ihren Sinnen haben sie erfahren, dass aller Not zum Trotz liebendes Miteinander Halt gibt und Mut macht zum Einsatz für Leben und Gerechtigkeit. Ich finde es weit darüber hinaus höchst treffend, dass eines der zentralen Worte Jesu sich in allen religiösen Traditionen dieser Erde findet. Wir nennen es die Goldene Regel. Sie lässt sich nur befolgen, wenn wir unser Gefühl befragen und auf unser Herz hören. Was sich in der deutschen Sprichwortfassung negativ formuliert findet, hat Jesus selbst positiv ausgedrückt:

Was ihr wollt, dass eure Mitmenschen euch tun, das tut ihnen! (Matthäus-Evangelium 7,12)

Was uns gut tut, was uns froh macht und frei, furchtlos und mutig, – und Jesus scheint vorauszusetzen, dass wir das spüren und wissen können,- alles dem Leben Dienliche soll im Mittelpunkt unseres Tuns stehen. Ach, wenn diese Botschaft, die zur Weisheit aller Religionen gehört, mehr beachtet würde als all die Feindschaft stiftenden Überlegenheitsvorstellungen.

Inzwischen haben sich die modernen Wissenschaften dieser alten Weisheit angenommen. Unter dem Label Empathieforschung gehen Forscherinnen und Forscher den Möglichkeiten und den Grenzen menschlichen Mitgefühls nach. Vieles deutet daraufhin, dass die prophetische Verheißung der Herzenskraft eine mächtige Realität ist. Unter bestimmten Bedingungen allerdings bedarf sie der Nachhilfe, braucht es, wie wir sagen könnten, Herzensschulung. Sie kennen das gewiss aus eigener Erfahrung. Wenn wir uns sicher fühlen und geliebt, haben wir ein weites Herz und Verständnis für vieles. Was uns selbst gefehlt hat, vermögen wir dagegen nur schwer zu geben. Es gibt ein sicheres Kriterium für die Einschätzung unserer Liebesfähigkeit. Das ist das Maß unserer inneren Erregung. Wenn uns etwas über die Maßen aufregt, dann zeigt das hin auf einen inneren Konflikt, auf das Fehlen von innerer Versöhntheit. So betrachtet kann der Ton in der Rede uns selbst belehren und bei Politikern Auskunft geben über die Stimmigkeit oder Torheit ihrer Behauptungen.

In der Gesellschaft im Ganzen, in den Organisationen und Verbänden könnte Wesentliches geschehen, um Empathiefähigkeit zu fördern. Auch Kirchen und Gemeinden könnten viel dafür tun. Wir wissen, dass die Entwicklung der Empathiefähigkeit bei den Kleinen beginnt. Wie in anderen Kindertagesstätten werden die Inselkrabben im evangelischen Kindergarten von Hiddensee hoffentlich reichlich gefüttert mit Verständnis und Mitgefühl. Bindungsforschung und Gehirnuntersuchungen haben Wesentliches entdeckt, das für den Lebenssinn, für tragfähige Religiosität von fundamentaler Bedeutung ist. Was könnte sich lösen und entwickeln, wenn junge Menschen zu Beginn ihrer Ausbildung oder ihres Studiums zunächst einen Kurs in Selbsterfahrung machten. Und Herzgruppen, wie es sie für die medizinische Rehabilitation gibt, könnten in seelischer Hinsicht für jedermann und jede Frau wertvoll sein. Es ist mehr als 40 Jahre her, dass Howard Clinebell für amerikanische Kirchengemeinden das Modell der Wachstumsgruppen bekannt gemacht hat. Wie schade, dass dieses Modell und die späteren Erkenntnisse der körperorientierten Traumatherapien in den deutschen Kirchen kaum Beachtung gefunden haben.

Angebote zu Berührung, zum Zittern, Energiearbeit der verschiedensten Art könnten wir in unsere Kirchengemeinden holen und mit ihrer Hilfe unsere Gemeindehäuser zu Häusern des Lebens, zu Schulungsorten des Herzens werden lassen.

Manches davon begegnet uns im Urlaub, so wie hier auf Hiddensee. Schon bei der Herfahrt fällt mancher Stress von uns ab. In der Ruhe auf der Insel weiten sich unsere Sinne. Bei Musik und Theater, beim Hören auf das Zwitschern der Vögel kommen wir in engeren Kontakt zu uns selbst und zum Gefühl für das Leben in seiner Ganzheit. Eine einzelne Heckenrose kann in uns das Staunen hervorbringen über das großartige Wunder des Lebens und sein unentdeckbares Geheimnis.Vom Staunen können wir zur Freude gelangen oder zum Weinen, je nachdem. Mit offenem Herzen entdecken wir immer wieder neu den Sinn unseres Lebens. So möge es sein!

© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen