Predigt am 23. Oktober 2021 auf Hiddensee

Unser heutiger Predigttext aus dem 10. Kapitel des Matthäus-Evangeliums (34-39) zeigt uns, wie gefährlich es sein kann, wenn einzelne Texte der Bibel zum absoluten Maßstab des Ganzen gemacht werden. „Scheidung zwischen Eltern und Kindern.“ „Nicht Frieden, sondern Schwert“. In der Anfangszeit der Jesus-Bewegung mögen solche Verse eine Ermutigung gewesen sein zu Eigenständigkeit und Selbstverantwortung derer, die sich von den Zwängen der weiter dem Judentum verbundenen Familien zu lösen suchten. Doch mit dem Erfolg der christlichen Gemeinden und ihrer Anerkennung durch den römischen Staat traten diese Verse in den Dienst eines Ausschließlichkeitsanspruches, der Kinder ihren Familien entriss und zuletzt keine Gnade gegenüber dem Leben von Andersgläubigen kannte.

Wie ich erst kürzlich bei einem Besuch in Kanada erfahren habe, verkündete Papst Nikolaus V. im Jahre 1455 in einer Bulle die Doktrin der Entdeckung, nach der dem portugiesischen König ausdrücklich alle Rechte über die in Afrika entdeckten Länder und Völker zugesprochen wurden. Nach der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus galt diese Doktrin auch gegenüber den Einheimischen in den von christlichen Eroberern besiedelten Gebieten Nord- und Südamerikas. Millionen Menschen wurden im Laufe der Jahrhunderte unterworfen, versklavt, gegen ihren Willen missioniert oder um ihr Leben gebracht. In Nordamerika und Australien wurden die Kinder der Eingeborenen von ihren Familien getrennt, um sie ihren ursprünglichen Traditionen zu entfremden. Diese kirchliche  Praxis löste in jüngster Zeit in der kanadischen Öffentlichkeit Erschrecken aus, als in der Nähe früherer Kinderheime und Internate Massengräber entdeckt wurden.

Am 3. Oktober dieses Jahres erlebte ich den ersten nationalen Gedenktag Kanadas  an das Schicksal der „ersten Völker“, deren Angehörige bis heute unter den Folgen des Mangels an wirtschaftlicher und sozialer Gleichberechtigung leiden. Die Anglikanische Kirche ließ einen Film produzieren, der die historische Entstehung der Doktrin der Entdeckung zeigt und ihre furchtbaren Folgen. Eine wichtige Rolle beim Wüten des Schwertes spielte das, was der Film „spirituelle Arroganz“ nennt. Mich hat die Beobachtung verwundert, dass die historischen Einsichten vor allem bei evangelikalen, charismatischen Gruppen und Gläubigen den Kern der spirituellen Arroganz kaum berührt haben. Weiterhin wird lokale und weltweite Mission für eine vorrangige christliche Aufgabe gehalten und die Verehrung Jesu als allen anderen überlegen gewertet. Auch in Deutschland gibt es diese evangelikale Strömung, auf deren Homepages sich inzwischen gesellschaftlich rechtsgerichtete Ansichten finden, die Andersgläubigen und Flüchtlingen wenig Toleranz entgegenbringen. Die passenden biblischen Belegstellen werden jeweils wiedergegeben.

Dabei bietet das Neue Testament auch ganz andere Zugänge und Möglichkeiten. Als Gegengeschichte zu unserem Predigttext erinnere ich mich an das samaritanische Dorf, in dem die Bewohner ihre Türen vor den Jüngern verschlossen. Diese waren so erbost, dass sie Jesus baten, Feuer vom Himmel fallen lassen zu dürfen. Nach dem Bericht von Lukas wendete sich Jesus erschrocken ab und sagte zu seinen Jüngern: „Wisst ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid? Ich bin nicht gekommen, Menschenleben zu vernichten, sondern zu erhalten.“ ( Lukas 9, 55) Der Gegensatz zwischen dem Geist des Lebens, des Erbarmens, der Liebe und dem Anspruch auf Herrschaft und Macht durchzieht die ganze Bibel und auch die Traditionen anderer Religionen und Kulturen. Welchem Geist folgen wir in unserem Glauben und in unserem Leben?

Ich bin froh, dass die Redaktoren der gottesdienstlichen Texte unserem Predigttext ein Evangelium an die Seite gestellt haben, das den Geist der Bergpredigt Jesu atmet, einer Zusammenstellung von Jesus-Worten, die Manche für den zentralen Kanon christlicher Verkündigung und Praxis halten. „Liebet Eure Feinde. Tut wohl denen, die Euch hassen. Denn Gott lässt die Sonne scheinen über Gute und Böse und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Und als Wochenspruch wird uns auf den Weg gegeben: „Überwinde das Böse mit Gutem“. (Römerbrief 12)

Ich bin so gern auf Hiddensee, weil sich die hiesige Kirchengemeinde von diesem Geist der Versöhnung inspirieren lässt. Sie ist Mitglied der Nagelkreuzgemeinschaften, die an die Bombardierung von Coventry im Jahre 1940 erinnern und sich für Frieden einsetzen. Und auf Hiddensee ist in der Ruhe und Vielfalt der Natur besonders sichtbar und spürbar der gute Geist der Schöpfung. Wie die Bilder in der Klosterkirche zeigen, waren die Fischer und Schiffer angewiesen auf Zusammenhalt und Solidarität. Recht verstanden gilt das für alle Erdenbewohner. Künstlerinnen und Künstler haben auf Hiddensee in vielfältiger Weise den Geist des Lebens und der Lebendigkeit in Farben dargestellt und in Versen besungen. In seinem Gedicht „Windstiller Abend am Vitter Bodden“ hat mein Großvater Nikolaus Niemeier die berührende Erfahrung der Güte Gottes und der Schöpfung anklingen lassen. Nach dem Sturm der Vortage mögen diese Zeilen auch für Sie   sprechend sein.

Da wird der Himmel beschrieben, der sich weitet. Die Wellen plätschern nur noch leise um ein Boot. Ein Flüstern geht um alle Häuser. Und dann folgen in Hamburger Platt die hier übersetzten Verse: „Zu dieser Zeit da schläft der Tod, das schläft der Sturm, da schläft die Not. Und alles ist still und leise und gut. Und Gott zieht auch vor dir den Hut.“

Was für eine Erfahrung, was für ein Versprechen. Heute wünsche ich Ihnen solche Erfahrungen, an die Sie sich erinnern und die Sie im Herzen behalten, die Sie ermutigen und die Ihnen den Weg weisen, weil Sie spüren und glauben und wissen: „Und Gott zieht auch vor dir den Hut.“

Mit solchen Erfahrungen im Herzen können wir sie auch allen anderen Erdenbürgern gönnen, wie auch immer sie sich ereignen, zu ihrer Zeit, an ihrem Ort, auf ihre Weise.

So möge es sein.

 

© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen