Der verborgene Schmerz des Heilers

„Das Drama des begabten Kindes“ in neuem Licht

 

Erinnern Sie sich noch, wann Sie erstmals den Impuls gespürt haben, heilerisch tätig zu werden? Gab es eine Alternative? Entstand der Wunsch, sich Anderen zuzuwenden, aus dem Glück über selbst erlebte Heilung, endlich erfahrene Befreiung? Oder konnten Sie sich immer schon so gut in Andere hineinversetzen, dass es Ihnen gleichsam selbstverständlich vorkam, dass Sie es als innere Verpflichtung ansahen, Anderen zu helfen? Oder wussten Sie um eigenes Leiden und waren Sie entschlossen, es Anderen möglichst zu ersparen?

Sicher gibt es ganz unterschiedliche Motivationen, einen Heilberuf zu ergreifen. Entscheidend scheint mir, dass wir den bewussten und unbewussten Anstößen früher oder später auf die Spur kommen, sie verstehen, gegebenenfalls entschlüsseln und wenn nötig über sie hinauswachsen.
Ich erinnere mich noch sehr genau, dass ich in der Oberstufe des Gymnasiums für mich nur drei Berufsmöglichkeiten sah, Arzt, Lehrer oder Pastor. Ich meinte, die Alternativen rational abzuwägen, und fand damals, dass der Arzt Menschen immer wieder auch verletzen, ihnen wehtun müsse. Der Lehrer demgegenüber müsse seine Schüler an ihren Leistungen messen. Allein der Pastor, so schien mir damals, sei berufen, den sich ihm anvertrauenden Menschen zur Seite zu sein und ihnen wirklich zu helfen. Natürlich stellte ich im Laufe von Studium und Ausbildung fest, dass sich die Dinge mit der Theologie und in der Kirche keineswegs so verhielten, wie ich gedacht hatte. Heute erst, gerade jetzt, beim Schreiben dieses Textes, spüre ich, dass die drei Kriterien, die ich seinerzeit bei der Berufswahl anlegte, meine größten persönlichen Sehnsüchte waren: nicht körperlich verletzt zu werden, nicht zu Leistungen getrieben zu werden, einfach angenommen, begleitet und ermutigt zu werden.

Alice Miller, die spätere Autorin des Buches „Das Drama des begabten Kindes“ und weiterer internationaler Bestseller zu Kindheitsthemen, wurde 1923 geboren, im selben Jahr wie Arno Gruen, der in ähnlich radikaler Weise und wohl mit noch mehr praktischer Erfahrung die gesellschaftliche Situation unserer Zeit mit den Gewalterfahrungen der Kindheit verband. Alice Miller nahm nach dem Zweiten Weltkrieg in Basel ein Studium der Philosophie auf und schloss es mit der Promotion ab. Danach begann sie die Ausbildung bei der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse und unternahm nach der ersten für ihren Abschluss notwendigen Analyse noch eine zweite, während sie schon als Psychotherapeutin tätig war. Nach eigener Aussage blieb ihr in beiden Analysen ihre Kindheit verschlossen. Im Alter von 49 Jahren begann Alice Miller zu malen und folgte damit einem Bedürfnis, das sie zeit ihres Lebens gespürt hatte. Wahrscheinlich kam sie beim künstlerischen Improvisieren in Verbindung mit der Kraft, die ihr half, ihre bedrohliche Krebserkrankung zu überwinden, sich scheiden zu lassen und sich mehr und mehr von den Dogmen der klassischen freudianischen Analyse zu lösen.
Die Einsichten der Bindungsforschung in die Notwendigkeit einer wertschätzenden Haltung der mütterlichen Bezugsperson überzeugten Alice Miller sofort. Erlebt sich ein Kind als willkommen und angenommen, kann es sein eigenes Selbst entwickeln und das Selbst Anderer später mühelos achten. Sind Eltern demgegenüber nicht in der Lage, das Kind als eigenständiges Wesen wahrzunehmen und aufwachsen zu lassen, passt sich das Kind notgedrungen den Erwartungen der Eltern an und entwickelt ein so genanntes falsches Selbst. Das Kind muss sich selbst und seine wesentlichen Bedürfnisse verleugnen. Entfremdet von sich selbst wird solch ein Kind zu einem unsicheren Erwachsen, schwankend zwischen Depression und Grandiosität.
Mit diesen Einsichten öffnet sich Alice Miller der Zugang zu ihrem eigenen Kindheitsdrama. In ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes“ kann sie ihre eigene Geschichte wie die der vielen früh überforderten, missbrauchten und zu Anpassung und Gehorsam gezwungenen Kinder einfühlsam nacherzählen. Psychotherapie bekommt als neue Aufgabe, den Verkrümmten und Geschädigten beizustehen, der schrecklichen Wahrheit ihrer Kindheit auf die Spur zu kommen, und sie zu ermutigen, ihr eigenes Leben zu gewinnen. Wozu Therapie im gelingenden Fall helfen kann, das erfährt Alice Miller im Malen und Schreiben an sich selbst. Martin Miller, ihr Sohn, von dessen Existenz damals kaum jemand weiß, schreibt über die Mutter jener Jahre: „Ich lernte sie als einen ganz anderen Menschen kennen: leidenschaftlich, offen, zugewandt, locker. Sie veränderte sich radikal, es war, als verschmölze sie geradezu mit ihren Gedanken, als fänden Körper und Geist zueinander. Das erste Mal konnte ich spüren, dass meine Mutter sich glücklich fühlte. Es war alles echt.“ (S.101)
Das Buch, 1979 erschienen, wird zum Bestseller, in 30 Sprachen übersetzt. Unzählige finden im Drama des begabten Kindes ihre eigene Geschichte wieder und verspüren die Sehnsucht, ihr wahres Selbst zu entdecken und in einem neuen Sein zu verwirklichen. Was als Lehre aus dem beispiellosen Menschenmorden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges nahe lag, wird von Alice Miller ausgesprochen und zur gesellschaftlichen Forderung erhoben: eine neue, mitfühlende Erziehung. Den alten Zwängen sei der Abschied zu geben, insbesondere auch dem vierten Gebot des biblischen Dekalogs, das Bestandteil der jüdischen, christlichen und muslimischen Tradition wurde und in der so genannten Schwarzen Pädagogik jüngerer deutscher Geschichte seinen wohl brutalsten Ausdruck fand.

Jean Liedloff hatte kurz zuvor, im Jahre 1975, in ihrem Buch über die Zerstörung der Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit auf die verhängnisvollen Folgen moderner Entbindungspraktiken hingewiesen und auf die in überlebenden Stammeskulturen gepflegte Verbundenheit zwischen Kind, Mutter und Gemeinschaft aufmerksam gemacht. Auch Arno Gruen betont in seinen Büchern die grundsätzliche Möglichkeit des Mitgefühls, selbst wenn sie in männlich geprägten Herrschaftssystemen und modernen Wettbewerbswirtschaften schwerwiegend behindert wird. Die Wahlmöglichkeiten des Einzelnen hängen an der jeweiligen Gestalt der frühen Erziehung, wie Laurence Heller in seinem 2013 erschienenen Grundlegenden Werk „Entwicklungstrauma heilen“ gezeigt hat. Traumatische Erfahrungen zwingen das Kind, Überlebensstrategien zu entwickeln, die auch im Erwachsenenleben lange wirksam bleiben.
Wie fatal sich auch bei großen Therapeuten früh nötig gewordene Überlebensstrategien auswirken können, zeigt uns Alice Millers Sohn auf ebenso deutliche wie verständnisvolle Weise in seinem Buch „Das wahre Drama des begabten Kindes“. Die später weltberühmte Kindheitsforscherin war selbst unfähig, sich der beiden Kinder anzunehmen, die sie zur Welt brachte. Martin Miller gelingt es erst nach dem Tod der Mutter, deren lange vergrabene, wirkliche Geschichte an den Tag zu bringen.
Kaum einer der vielen Leser ihrer Bücher wusste, dass Alice Miller als ältestes Kind einer jüdisch-polnischen Familie in der Nähe von Warschau geboren wurde. In der nichtjüdischen polnischen Schule, auf deren Besuch sie entgegen dem Wunsch der Eltern bestand, lernte sie das perfekte Polnisch, das ihr in den Jahren der deutschen Besatzung ermöglichte, für sich, ihre Mutter und ihre Schwester gefälschte Papiere zu besorgen, außerhalb des von den deutschen Truppen errichteten Ghettos unterzutauchen und dadurch der Vernichtung zu entkommen. Nach dem Ende des Krieges gelang die Übersiedlung in die Schweiz, die ihr äußeren Schutz bot und die Möglichkeiten zur Selbstbefreiung, die zuvor kurz beschrieben wurden. Doch bis in ihr Sterben hinein verfolgten Alice Miller die Schrecken der drohenden Vernichtung.

Mich hat ergriffen, wie es Martin Miller gelingt, die Unfähigkeit seiner Mutter ihm selbst und seiner Schwester gegenüber ebenso wahrzunehmen wie die bleibende Gültigkeit ihrer Kindheitsforschung. So wird sein Buch zur erneuten Ermutigung für uns, den eigenen, den bekannten und den verdrängten Verletzungen aus der Zeit unserer frühen Kindheit nachzugehen. Nur wenn wir sie rechtzeitig ans Licht bringen, sie betrauern und erlösen, können wir vermeiden, unseren eigenen Kindern das Wesentlichste vorzuenthalten, können wir die Fähigkeit und Reife entwickeln, als Helfer und Heilerinnen den uns Anvertrauten auf allen Feldern ihrer Existenz mitfühlend zu begegnen.

 

Literatur:
Martin Miller, Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken, Freiburg 2013
Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, Frankfurt 1979
Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt 1983
Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung der Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit, München 1984
Arno Gruen, Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit, München 1997
Laurence Heller/Aline Lapierre, Entwicklungstrauma heilen. Alte Überlebensstrategien lösen. Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken, Freiburg 2013

© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen, Februar 2014

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