Befreite Herzen
Predigt am 18.Januar 2015
In der Bibel finden sich mehrere Dutzend Stellen, in denen es um das Herz geht. Da finden sich Verse, die das Herz als Sitz und Ausdruckgeber menschlicher Gefühle betrachten, freudiger wie schmerzlicher Art. Immer wieder wird das Herz als die zentrale Mitte des Einzelnen angesprochen, die über die Richtung und Gewichtung menschlichen Handelns entscheidet. All diese Stellen scheinen in den Hintergrund geraten zu sein vor dem einen, allerersten Vers in der Bibel, in dem das Herz auftaucht. Ich finde es bestürzend, welche Bedeutung diesem Vers gegeben wurde und bis heute gegeben wird, wie ein Blick ins Internet zeigt, wo auf den Seiten frommer Gruppen dieser Vers wieder und wieder genannt und beschworen wird als sei er in Stein gemeißelt und unverrückbar. Im 8.Kapitel des ersten Buches der Bibel wird als Gotteswort überliefert: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“
Das Böse im Menschen ist seit etwa zweieinhalb Jahrtausenden zu einem bedrückenden Leitmotiv geworden in der religiösen und kulturellen Überlieferung zunächst des Morgenlandes und dann und vor allem des Abendlandes. Die Sündhaftigkeit des Menschen ist seit Paulus und Augustin zum zentralen christlichen Topos geworden und hat unzählige Gestalten theologischer Theoriebildung und praktischer Frömmigkeit bestimmt. An den von mir bewusst ausgelassenen Versen der heutigen Lieder können sie erkennen, wie sehr die Überzeugung von unserer Sündhaftigkeit selbst noch die neueste Ausgabe unseres Gesangbuches durchzieht.
Wenn das Böse den Menschen bestimmt, wird der Kampf gegen das Böse zum obersten Gebot. Unter Sätzen wie den folgenden haben Sie womöglich selbst gelitten oder finden sie immer noch einleuchtend: „Dem Willen von Kindern sind beizeiten deutliche Grenzen zu setzen!“ „Der erste Samenerguss des Jungen ist ein Alarmzeichen.“ „Das Mädchen darf doch nicht einfach zu seinem Freund hinübergehen.“ „Strafe muss sein.“ „Aufsässigkeit muss gebrochen werden“, spätestens im Gefängnis. Und auch hierzulande ist inzwischen der finale Todesschuss erlaubt.
Doch merkwürdig: Wo das Böse vordergründig so energisch bekämpft wird, macht es sich hintergründig gerade besonders breit. Die Geschichte des christlichen Abendlandes ist durchzogen von einer blutigen Spur der Gewalt, gegen nichtchristliche Völker, gegen Frauen und Minderheiten, selbst zwischen den einzelnen christlichen Staaten. Ähnliches gilt für Phasen in der Geschichte der muslimischen Welt. Und dass die Eroberungs- und Vernichtungsgeschichten der biblischen Bücher, wie wir heute wissen können, durchweg Rachephantasien entstammen und keineswegs historisch sind, ist nur ein schwacher Trost, wenn sie in Israel von vielen wörtlich genommen und von gewaltbereiten Gruppen zur Rechtfertigung herangezogen werden.
Die Gewalt fördernde Wirkung des gezielten Kampfes gegen das Böse hat durch psychologische Forscher wie Arno Gruen eine einleuchtende Erklärung gefunden. Es ist die von den Eltern erzwungene Entfremdung von Kindern gegenüber ihren eigenen Bedürfnissen, die sich später im Hass gegen Andere einen schrecklichen Ausgleich sucht.
Vor diesem Hintergrund verdient Beachtung, finde ich, dass in nicht-monotheistischen Religionen und in Kulturen, in denen dem menschlichen Körper eine eigenständige Bedeutung gegeben wird, die Spannbreite menschlicher Verhaltensweisen weit weniger extrem aufgespannt ist wie im Christentum. Immerhin, in den warmen, weisheitlichen Unterströmen der monotheistischen Überlieferung findet sich auch ein Wissen um das gute Potential des Herzens. Propheten wie Jeremia und Hesekiel hoffen für eine ausstehende Zukunft auf ein Herz, das ohne Belehrung auskommt, und das aus Fleisch gemacht ist statt aus Stein.
Das alte, eher untergründige Wissen um ein zum Empfinden, zum Barmen und Erbarmen fähiges Herz findet sich exemplarisch gestaltet in der Erzählung Jesu vom Überfallenen, die vom Evangelisten Lukas überliefert wird. Es scheint mir des Nachdenkens wert, dass gerade die religiösen Experten, die ihr Leben dem Einsatz für Gott und den Gottesdienst gewidmet haben, den Überfallenen links liegen lassen. Ein religiöser Außenseiter hat sein Herz empfindsam und offen. Er erbarmt sich für den Moment notwendiger Hilfe. Mit seiner Erzählung umgeht Jesus die Beantwortung der abstrakten Rechtsfrage nach der Reichweite der Nächstenliebe. Stattdessen legt er die Möglichkeit des Mitgefühls seinen Zuhörern und Zuhörerinnen ausdrücklich ans Herz: „ So gehe hin und tue desgleichen.“ Doch ist das so einfach wie es klingt?
An einer amerikanischen Universität wurde die Erzählung Jesu nachgestellt. Den Teilnehmern an einem Kurs wurde eingeschärft, sie sollten sich beim Wechsel in einen anderen Unterrichtsraum nur ja beeilen. Drüben werde ein wichtiger Test geschrieben. Im Hof, den die Studenten zu durchqueren hatten, lag ein verletzt Aussehender und stöhnte. Das Verhältnis von Hilfswilligen zu Vorbeieilenden war so ähnlich wie in der Erzählung von Jesus: einer von dreien war bereit, stehen zu bleiben und zu helfen.
Ist die Sündhaftigkeit also doch angeboren? Die Psychologen meinen, das Versagen der Vorbeieilenden erklären zu können. Stress, so hat die Empathieforschung der letzten Jahre herausgefunden, ist in der Lage, das Mitgefühl einzuschränken. Und noch schwerer wirken die Blockaden, die der kindliche Organismus aufbaut, wenn das kleine Kind beim Entdecken und Erproben seiner Lebendigkeit auf Unverständnis stößt, Ablehnung erfährt oder auf die eine oder andere Weise bestraft wird. Das Abschalten des Gefühls kann zur Überlebensreaktion werden, die später zu ängstlicher Vermeidung führt oder auf gewaltsamen Ausgleich drängt. Wenn wir die Entstehungsbedingungen für wahr nehmen, sind Gleichgültigkeit, Suchtverhalten, Beziehungsstörungen und Gewaltbereitschaft, wie wir sie auch hierzulande vielfach erleben, keine Beweise für die Sündhaftigkeit des Menschen, sondern alarmierende Zeichen dafür, dass dem tief verankerten Sehnen des menschlichen Herzens allzu häufig die Gegenliebe fehlt.
Deshalb, finde ich, wird es höchste Zeit, dass wir uns in der Theologie und in den Gemeinden von den gewaltträchtigen geschichtstheologischen Konstruktionen der biblischen Überlieferung ebenso entschlossen verabschieden wie von ihren kurzsichtigen anthropologischen Verallgemeinerungen und ihrem allzu pessimistischen Menschenbild.
Die zeitgenössische Evolutionsforschung und die neuen Einsichten in Kindheitsentwicklung und Bindungsverhalten eröffnen uns zum Staunen gebende Perspektiven über Potential und Möglichkeiten des Menschseins. Sie treffen sich im Übrigen mit dem was seit Jahrtausenden zum Erfahrungswissen von Naturvölkern, matriarchalen Gemeinschaften und Körperorientierten Kulturen gehört.
Ach könnten wir ihre Botschaft glauben: Es gibt in diesem unermesslichen Universum eine gute Ordnung der Dinge und alles und jedes hat darin seinen bestimmten Platz. Im Miteinander der Kräfte und Geschöpfe hat sich diese Erde zu dem einzigartigen Ort entwickelt, der Menschen Platz bietet, ihr besonderes Potential zu entfalten, auf Zeit und in den dem Gesamt der Schöpfung entsprechenden Grenzen. Und jeder Mensch weiß um seine Bestimmung und um seine Möglichkeiten, lange bevor sie ihm ins Bewusstsein treten.
Die Erkenntnisse des amerikanischen Kindheitsforschers Daniel Stern sind mir gleichsam zur Offenbarung geworden. Die langjährigen Studien seines Teams haben ergeben, dass Säuglinge „ein Gespür in sich tragen für das, was sie im Kontakt brauchen, und dies auch deutlich signalisieren: sie zeigen, wann sie Nähe und Zuwendung brauchen, wann sie für sich sein wollen, genauso wie sie anfangen, unruhig zu werden, wenn sie z.B. Hunger haben oder den Wunsch nach spielerischem Kontakt“. (nach L. Schrenker, Pesso-Therapie. Das Wissen zur Heilung liegt in uns, Stuttgart 2014, 37)
Wenn Kinder schon als Babys wissen, was sie brauchen, ist es völlig unnatürlich, wenn wir Erwachsenen uns einbilden, wir müssten sie dorthin er-ziehen, wo wir sie hin haben wollen. Unsere einzige Aufgabe und unser größtes Glück liegt dann vielmehr darin, unseren Kindern und Enkeln ein möglichst passendes Gegenüber zu sein, gemeinsam mit ihnen auf dem Weg, unser jeweils gegebenes Potential zu verwirklichen in der dem Leben unter den jeweiligen Umständen am besten dienenden Weise. Ohne die Erkenntnisse von Daniel Stern zu kennen, hat die in Ecuador lebende Schweizer Erzieherin Rebecca Wild diese Möglichkeit in ihrem Buch beschrieben, das den Titel trägt: Mit Kindern leben lernen.
Sicher gibt es die Glücklichen, die in Verbundenheit mit ihrem inneren Wissen aufwachsen durften und ihrer Intuition folgend ihrer Lebendigkeit Ausdruck geben und in gutem Kontakt sind mit ihrer Umgebung. Wir Anderen haben es eben immer noch und immer wieder zu lernen: zu leben. Das stellt eine ziemliche Herausforderung dar in einer Gesellschaft wie der unseren, die weithin technisches Wissen über inneres Wachstum stellt und die Aneignung und Vermehrung von Kapital zum höchsten Wert gemacht hat und durchpeitscht, oft ohne Rücksicht auf die Überlebensbedingungen von Mensch, Tier und Natur. Diesem Wahnsinn der Normalität, wie Arno Gruen es genannt hat, zu entgehen und den Boden zu entziehen, bedarf es der Anstrengungen aller, die das Leben lieben und kostbar und heilig erachten.
Kirchengemeinden und andere Religionsgemeinschaften, solange sie über die Kreise sektiererischer Besserwisser hinausreichen, haben große Möglichkeiten, das Wachsen zum Menschsein zu fördern und zu unterstützen. Sie könnten Menschenhäuser aufbauen und ausbauen, in denen nicht zuerst Glaubensgewissheiten ausgetauscht werden, sondern Gefühlsunsicherheiten. Hier könnten Suchende sich treffen und an sich selbst Zweifelnde.
Hier könnten sie lernen, sich ihrer Ungeduld, ihrer Empfindlichkeiten, ihrer Ausbrüche nicht zu schämen, sondern sie als Signale zu verstehen ihrer unterdrückten oder ins Stocken geratenen Lebendigkeit. Statt ihre unangenehmen Gefühle Anderen anzulasten, könnten sie unter ihnen ihre eigene Sehnsucht entdecken, gesehen zu werden, in Kontakt zu kommen und einen guten Platz zu finden. Es dürften sich auch jene einfinden, die sonst keinen wissen, dem sie sich zu sagen trauten, was sie bedrückt: die junge Mutter, sie sich beim Losbrüllen entdeckt, obwohl sie ihren Jungen so gern hat; der geängstigte Jugendliche, der seine jüngeren Geschwister in Sicherheit bringt, weil sich die Eltern mal wieder in den Haaren liegen; der junge Mann, der um sich und andere Angst hat, weil er spürt, wie in ihm Aggressivität aufsteigt.
Wie viele wünschen sich Gelegenheit und Unterstützung, gerade das ansprechen zu können, was als unerwünschtes Verhalten gilt und doch im Untergrund brodelt, in der Familie, am Arbeitsplatz, in Stress, Einsamkeit und Krankheit. Wir alle, kann ich mir vorstellen, brauchen von Mal zu Mal ein zugewandtes Herz, offene Ohren und zuweilen auch offene Arme. Papst Franziskus erinnert seine Zuhörerinnen und Zuhörer immer mal wieder an die Tugend der Zärtlichkeit. Ach, könnten wir Menschenhäuser einrichten mit Gärten der Zärtlichkeit, in denen der Menschen Herzen berührt werden, ihre Seelen aufatmen können und ihre Körper Zustrom und Stärkung erfahren für den Fluss der Lebendigkeit.
© Dr. Ulrich Kusche, Göttingen